„Wo steckt Leader?“, fragte Martin jetzt. Er verspürte kein Verlangen, mit Pitt höfliche Konversation zu machen. Seine Tage in der Band waren gezählt.
„Irgendwo draußen“, antwortete Pitt. „Mit Andreas. Sie wollten etwas streichen.“
Er fand Leader mit Andreas an der Südseite des Kolpinghauses, wo sie mit brauner Farbe die Buchstaben DWJ auf den hohen Rundbogenfensterscheiben übermalt hatten. Niemand wusste, was die Abkürzung bedeutete.
„Fertig“, sagte Leader und stieg von der Leiter.
„Ich bin ganz geblendet von der Sonne“, klagte Andreas. „Ich muss sofort in den Schatten. - Ach, sieh an, unser Sologitarrist meldet sich zum Dienst zurück.“
„Pünktlich“, bemerkte Leader. Er zog ein Tuch aus seiner Jeans und wischte langsam und gründlich einige Farbspritzer von den Fingern. „Wie wars im Ferien-Camp?“ Es war eine Höflichkeitsfrage ohne tieferes Interesse.
„Lustig“, antwortete Martin. „Und hier?“
„Lass uns ins Kühle gehen“, schlug Leader vor. Dann erkundigte er sich: „Kannst du unseren Bandnamen in Großbuchstaben auf die drei Fenster schreiben, wenn die Farbe trocken ist?“
„Das wäre eine Aufgabe für Georg“, überlegte Martin. „Soviel ich weiß, hat er für die Gemüseabteilung im WW-Markt seiner Eltern schon Hunderte von Plakaten gemalt.“
„Dann soll er das übernehmen“, entschied Leader.
Sie gingen in den kühlen Festsaal und setzten sich an den Tisch vor der Bühne.
„Bier?“, fragte Leader.
„Cola“, sagte Martin.
Leader nickte Andreas zu, der zur Theke schlenderte und aus einer Kiste vier Flaschen herausholte.
„Wann proben wir?“, wollte Martin wissen, nachdem Andreas die Verschlüsse von den Flaschen gelöst hatte und jeder sein Getränk in der Hand hielt.
„Morgen“, sagte Leader. „Am besten nachmittags.“
„Wann haben wir den nächsten Auftritt?“
„Übermorgen.“
„Schön“, bemerkte Martin. „Also läuft alles wie immer.“
„Nicht alles“, gab Leader zu verstehen. Er zog aus der Brusttasche seines verschwitzten Hemdes eine Zigarette, die er zwischen seine Lippen steckte. Pitt stieg die Stufen der Bühne herunter und hielt Leader eilfertig sein brennendes Feuerzeug an die Zigarette.
Lakai, dachte Martin.
„Hier hat sich einiges verändert“, erklärte Leader weiter.
„Dann erzähl. Machs nicht so spannend.“
„Also“, begann Leader. „Wir haben beschlossen, unsere Auftritte geschäftsmäßiger auszuschlachten, verstehst du?“
„Viel gibt’s da nicht zu verstehen“, bemerkte Martin. „Es geht um Geld.“
„Genau“, bestätigte Leader. „Geld. Du sagst es. Wenn wir Pech haben, wird das Kolpinghaus im nächsten Frühjahr abgerissen, damit Beverungen eine neue Stadthalle bekommt. Wenn wir Glück haben, kann sich der Baubeginn noch zwei Jahre hinauszögern. In dieser Zeit scheffeln wir Bares.“
„Wie bisher“, sagte Martin. Auch künftig würde Leader in der Band seine Rolle spielen. Er managte die Gruppe, kümmerte sich um die Auftrittstermine, vereinbarte Preise, bestellte Getränke beim Händler und rechnete später mit den Jungs ab; der Rest des Geldes ging zu gleichen Teilen an die Bandmitglieder. Aber Leader mauschelte. In diesem Punkt war Martin sich sicher. Wegen ein paar lumpiger Scheine, die Leader sich in seine Tasche mogelte, wollte er keinen Stunk mehr machen. Es lohnte sich nicht.
„ Geschäftsmäßig heißt das Motto“, fuhr Leader fort. „In zwei Wochen fängt die Schulzeit wieder an. Wir hatten neulich die Klassensprecher von vierzehn Schulen eingeladen. Fast jede Klasse zwischen Detmold, Göttingen und Kassel hat irgendwann Interesse an einer Klassenfete in unserem Kolpinghaus.“
„Klingt vielversprechend.“
„Das meine ich auch“, bestätigte Leader. „Wir nehmen das übliche Eintrittsgeld bei jeder Party und machen Gewinn beim Bier, das wir für den doppelten Eintrittspreis an die braven Kids verkaufen. Bei Cola und Limo machen wir es genauso. Andreas´ alten Küchenschrank schleppen wir zum Eingang.“
„Wozu soll das gut sein.“
„Wir besorgen Bonbons, Popkorn, Weingummi, Kaustreifen, Chips, Lutscher und son süßsaures Zeug und verhökern es an die Kundschaft. Je größer unser Angebot ist, desto höher der Gewinn.“
Isabell, dachte Martin nur. Was Leader äußerte, berührte ihn im Grunde nicht. Geld, Gewinn, Geschäftsmäßigkeit. War das ein Thema, wenn man eigene Musik machen wollte? I-sa-bell. Mit wem konnte er hierüber reden? Wohl kaum mit den Jungs. Einer wie Pitt, der seine Abneigung gegen ihn nicht einmal zu verbergen suchte, konnte wahrscheinlich nicht mal bis 3 zählen.
„An den Tagen ohne Auftritte machen wir Geld aus der Wiese neben dem Haus. Hab schon ein Schild gemalt: Bewachter Parkplatz . Ein Fünfmarkschein für jedes Stündchen müsste drin liegen.“
„Gute Idee“, sagte Martin und trank von der kalten Cola.
„Vorrangiges Ziel ist es, den Leuten so viel Geld wie möglich aus der Tasche zu ziehen.“
„Du entwickelst dich mehr und mehr zu einem harten Geschäftsmann“, meinte Martin.
„Knallhart“, ergänzte Andreas, der immer Leaders Meinung war.
„Es gibt noch mehr Möglichkeiten, aus dem Laden hier Geld zu machen“, führte Leader das Gespräch fort.
„Erzähl.“
„Hannes soll mit seiner Sofortbildkamera die Partygäste fotografieren. Die Bilder werden im Flurschaukasten ausgestellt. Es gibt immer Leute, die wild darauf sind, auf Fotos verewigt zu werden. Unvergessliche Momente. Die Bilder lassen wir uns mit drei Mark pro Stück bezahlen. Der Preis klingt hoch, aber die Idee wird sich durchsetzen.“
„Versuchen können wir es“, meinte Martin abwesend. Im Stillen dachte er nur: I-sa-bell.
„Feigheit vor dem Freund würde ich so etwas nennen“, mit diesen Worten begrüßte ihn seine Mutter am Abend vor dem Fernseher.
„Das siehst du völlig falsch, Mama“, verteidigte Martin sich und ließ sich in den Sessel fallen. „Es geht nicht um Feigheit, sondern um - um - Taktgefühl oder was weiß ich.“ Er sah, wie seine Mutter mit hochgezogenen Augenbrauen die Fernbedienung von der gläsernen Tischplatte nahm und die Lautstärke bis zum Nullpunkt verringerte. „Nigel ist nicht mein Freund.“
„Er ist aber der Meinung, du seiest sein bester Freund.“
„O Gott“, stöhnte Martin auf und legte beide Hände hinter dem Kopf zusammen. Er war nicht in der Stimmung, Vorwürfe seiner Mutter mit Rechtfertigungen zu begegnen. Trotzdem versuchte er, seinen Standpunkt zu erklären. „Er drängt sich mir auf. Ich weiß gar nicht, womit ich das verdient habe.“
„Woher kennst du ihn überhaupt?“ Eine Spur von möglichem Verständnis klang in ihrer Frage mit.
„Vor zwei Jahren war er auch im Büsumer Ferienlager. Ich durfte ihn betreuen. Er hing die ganze Zeit wie eine Klette an mir. Ich habe ihn erst vor ein paar Wochen zufällig wiedergetroffen, als ich mir in Höxter neue Saiten im Musikladen kaufte. Ich glaube fast, er sieht einen großen Bruder in mir oder so. Er träumt noch immer von nächtlichen Wanderungen im Schlangenwald, von Gespenstern und feinen Kameraden, die in Wahrheit gar nicht so fein waren. Von den Ferien-Abenteuern schwärmt er wie ein Zehnjähriger. Dabei ist er mindestens vierzehn. Du kannst dir nicht vorstellen, wie er mich damals nervte mit seinem Geschwätz.“
„Was für Geschwätz?“
„Er redete Tag und Nach von den Quiz-Sendungen, die er im Fernsehen angeschaut hatte. Oder er berichtete haarklein, was für ein Buch er gerade gelesen hatte. Es ist nicht auszuhalten.“
Seine Mutter verschränkte ihre Arme vor der Brust und betrachtete ihn mit kritischen Augen. Sie überlegte kurz und bemerkte: „Für viele einsame Menschen ist die einzige Lebenserfahrung die sogenannte Leseerfahrung. Ich dachte, das wäre dir bekannt.“
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