„Es waren fünf“, belehrte sie ihn. „Außerdem unterliegen Postkarten nicht dem Paragraph 10 des Grundgesetzes.“
„Paragraph 10?“
„Briefgeheimnis“, klärte sie ihn auf.
„Wie schön für dich“, meinte er. „Dann brauchst du dich nicht mit Gewissensbissen zu quälen.“
„Mach dir nur keine Sorgen um mein Gewissen“, meinte Tina und umschlang das Türblatt mit beiden Armen, wobei ihre Finger sich auf der oberen Kante berührten. Die Art, wie sie ihre Brüste und das Becken gegen die Tür presste, hatte etwas Anzügliches, das er nur aus billigen amerikanischen Filmen über das Rotlichtmilieu kannte. Es war bezeichnend für Tina: Jede Begegnung mit anderen Leuten war für sie ein Auftritt , bei dem sie sich in Szene setzen und produzieren konnte.
„Ist Isabell in ihrem Zimmer?“, fragte er sie.
„Ja. Aber vergiss nicht zu klopfen. Sie hat sich eben erst bei mir beschwert, weil ich es vergessen hatte.“ Sie ließ ihn in den Flur eintreten und schloss die Haustür.
„Hat Isabell noch Urlaub?“, erkundigte er sich auf dem Weg durch den Gang zum Zimmer.
„Heute ist ihr letzter Tag. Morgen muss sie wieder in die Praxis“, hörte er Tina sagen, bevor sie mit der linken Schuhspitze den Schalter des fahrbaren Staubsaugers berührte und der aufbrausende Motor mit seinem Lärm das Gespräch beendete.
Er klopfte zweimal gegen die weißgestrichene Tür von Isabells Zimmer und lauschte nach ihrer Stimme. Da er keine Antwort erhielt, drückte er den Griff hinunter und trat in den Raum hinein. Durch das offene Fenster drang ein leichter Heuduft von den umliegenden Wiesen herein. Isabells Decke lag sauber gefaltet auf dem Bett. Neben dem himmelblauen Kissen starrte ihr Kuschelbär mit weit geöffneten Augen zur Decke. Martin sah sich im Zimmer um. Wo war Isabell? Neben der Lampe auf dem Nachttischchen lag ein Buch mit einer Feder als Lesezeichen zwischen den Seiten: Der Fänger im Roggen .
Warum versteckte sie sich vor ihm? - Ich will Klarheit, dachte er. Im Flur schaltete Tina den Staubsauger aus. Die Musik aus dem Radiolautsprecher in der Küche wurde leiser gestellt. Martin steckte beide Hände in die Taschen seiner Hose und ging langsam zum Fenster. Er betrachtete Isabells Malutensilien auf der Fensterbank: Pinsel in einem Wasserglas, Bleistifte, einen Anspitzer, Farbtiegel auf dem Skizzenblock. Er bog das oberste Deckblatt ein Stück zurück, um die letzte Zeichnung anzusehen: Die Seite war leer. Hatte sie in den letzten zwei Wochen keinen Strich zu Papier gebracht? Es war ihre Sache und ging ihn nichts an. Auf dem Schreibtisch entdeckte er zwei geöffnete Briefumschläge, aus denen die gefalteten Blätter schräg herausragten. Auch ihre Briefe gingen ihn nichts an. Dennoch konnte er nicht widerstehen, einen Blick auf die Absender zu werfen: Djaymila - eine Brieffreundin aus Köln; Susanne - Isabells Cousine, die mit ihren Eltern nach München gezogen war. Auf der Schreibtischunterlage, die aus einem großflächigen Papierblock bestand, hatte Isabell einige Bleistifte mit unterschiedlichen Härtegraden ausprobiert: Kreise, Striche, graue Flächen. Mit einem blauen Kugelschreiber waren flüchtige Notizen auf das rosafarbene Papier gebannt worden: Namen, die er noch nie gelesen hatte, Titel von Büchern oder Musikstücken, Telefonnummern, die er nicht einordnen konnte. Eigenleben, dachte er, sie führt ein Eigenleben, von dem ich nichts weiß. - Am unteren Rand des Blockes erkannte er den Bleistift-Entwurf einer Gitarre. Etwas stimmte nicht an dem Bild. Was war es? Die Gitarre besaß am Ende des Halses sechs Einstellschrauben, doch waren nur vier Saiten über den Griffbetten gezeichnet worden. Das war es, was nicht stimmte. Auf jeder Saite stand in gesperrten Großbuchstaben ein Wort. Martin beugte sich über den Tisch und las nun den vierzeiligen Schriftzug:
DER
CLAN
DER
STUBENHOCKER
Isabell hatte für die Band, in der er spielte, einen Plakatentwurf gezeichnet. Das war gewiss ein gutes Zeichen. Als die Klinke der Tür sich neigte, spürte er seinen hämmernden Herzschlag.
„Wo ist meine Schwester?“, fragte Tina verwundert.
„Das wollte ich dich gerade fragen“, sagte er.
Tina wandte sich um und rief Isabells Namen in den Flur hinaus. Sie lauschte. Keine Antwort. Schließlich ging sie zum Wohnzimmer, öffnete die Tür und warf einen Blick hinein. „Isabell?“ Nachdem sie auch in der Küche, im Schlafzimmer ihrer Eltern und im Gästeraum nachgesehen hatte, kam sie achselzuckend zurück. „Scheint nicht mehr im Haus zu sein. Vielleicht hat Judith sie abgeholt, mein Schwesterlein. Merkwürdig.“
„Was ist merkwürdig?“, erkundigte er sich.
Tina antwortete: „Plötzlich ist sie verschwunden. Eben war sie noch hier.“
Der Clan der Stubenhocker hatte sein Domizil im alten Kolpinghaus von Beverungen. Die Bezeichnung Domizil war nicht überhöht, denn keine Band der Gegend konnte als Auftrittsraum für Rockkonzerte eine kirchengroße Halle mit Bühne, Scheinwerfern und Vorhang für sich nutzen. Wenige Wochen zuvor spielten die Stubenhocker noch in einem muffigen Kellerraum des roten Sandsteingebäudes bei der Burg. Leaders Vater, der einen Sitz im Stadtrat besaß, hatte sich für die Band eingesetzt. Martin, Leader, Andreas, Georg und Pitt durften bis zum Abriss der Halle ihre Musik hier spielen. Nach den ersten Auftritten vor Publikum hatte sich Der Clan der Stubenhocker zu einem Projekt entwickelt, bei dem es in der Hautsache darum ging, Musik in Geld zu verwandeln.
Es war fast Mittag, als Martin durch die Burgstraße zum Kolpinghaus gelangte. Ein Lastwagen mit Getränkekisten polterte über das Pflaster in die Richtung der Innenstadt. Leaders Auto, ein schwarzer zerbeulter VW, parkte beim Eingangsportal hinter ein paar Fahrrädern, die schräg an der Hauswand lehnten. Geld, Getränkeverkauf, Umsatz - all dies hatte mit Musik im Grunde nichts zu tun. Martins Tage in der Band waren eigentlich gezählt: Ein paar Auftritte noch bis zum Herbst, dann hätte er genug Geld beisammen, um sich einige seiner Wünsche zu erfüllen: Eine spanische Gitarre, dazu ein spezielles Mikrofon, ein Hallgerät und vielleicht einen neuen Mehrspurrecorder. Solange die Sache mit Isabell nicht geklärt war, wollte er keine Pläne schmieden. Er dachte an das Buch auf Isabells Nachttisch. Er hatte ihr Salingers Werk empfohlen. Sie las es. Das war ein gutes Zeichen. Aber warum lief sie vor ihm davon? Irgendwie war das kindisch. Was hatte sie zu verbergen? Wenn er darüber nachdachte, erinnerte er sich: Bereits vor seiner Abreise in das Büsumer Ferienlager hatte sie sich ein wenig anders verhalten. Wie - anders? Er suchte nach einer präzisen Umschreibung und kreiste dabei immer wieder um das Wort reserviert . Vielleicht gab es treffendere Begriffe; zurückhaltend, grüblerisch, launisch, unzufrieden, abwesend ... Warum äußerte sie sich nicht? - Er konnte immer noch bis 3 zählen. Wenn sie mit ihm Schluss machen wollte, genügte eine einfache Erklärung ohne Rechtfertigungs-Szenen. Er würde sich nicht umbringen. Jedenfalls nicht vor dem Kauf einer spanischen Gitarre.
Durch das schwere Eichentor gelangte er in den kühlen Vorraum des Festsaals. Seine Schritte hallten in dem hohen Saal nach. Auf der Bühne, im Schein einer weißen Deckenlampe, putzte Pitt die Chromteile seines Schlagzeugs mit einem Lappen, den er in eine mit Flüssigkeit gefüllte Dose tauchte.
„He“, grüßte Martin.
Pitt blickte auf und sagte nur zögerlich: „Hi.“
Pitt war erst seit kurzer Zeit in der Gruppe. Als Drummer musste er es sich - manchmal zähneknirschend - gefallen lassen, wenn Martin ihn bei einigen Stücken, die ihm heilig waren, kontrollierte. „Ein Wirbel zu viel und ein Beckenschlag an der falschen Stelle können das Feeling eines Songs zerstören“, hatte er Pitt bei einer Probe anvertraut. Pitts Augen waren uneinsichtig zu Leader gewandert, doch dieser hielt sich aus dem Konflikt heraus.
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