Ich ging den Flur weiter entlang und blätterte dabei die erste Akte durch. Ein junger Mann, lass mich rechnen, 22 Jahre alt. Es musste einer seiner ersten Einsätze gewesen sein. Mal sehen, wie es ihm danach so ging. Ich betrat mein Büro und der junge Mann sprang von seinem Stuhl auf. „Guten Morgen, Ma‘m.“ Es klang fast wie ein Befehl. Er hatte auf dem Stuhl Platz genommen, auf dem 90% meiner Patienten Platz nahmen. Ebenso sprang er auf, als ich eintrat, so wie es 90% der anderen auch taten. Ein Patient hatte mich doch tatsächlich mal „Sir“ genannt und wich auch nicht davon ab. Ich fand das total durchgeknallt. Der gute Mann musste auch erst mal eine kleine Pause verordnet bekommen, um in das normale Leben zurückzukehren. „Guten Morgen, James.“ Ich musste erst auf seine Akten gucken. „Bitte setzen Sie sich.“ Er nahm stocksteif Platz und faltete die Hände auf seinem Schoß. Auch das beobachte ich häufiger. „Wann sind Sie von Ihrem letzten Einsatz zurückgekommen?“ „Gestern Abend, Ma‘m.“ „War es Ihr erster Einsatz?“ „Yes, Ma‘m.“ „Wer hat den Einsatz geleitet?“ „Beno, Ma‘m.“ Ah, dieses ‚Ma‘m’! Ich fühlte mich jedes Mal uralt, wenn ich so angesprochen wurde. „Fühlten Sie sich sicher?“ „Absolut, Ma‘m. Ich blieb während der Mission allerdings an Bord des Helikopters, Ma‘m. Stellung halten.“ Er entschuldigte sich fast dafür, dass er nicht mit ins Geschehen eingegriffen hatte. Der Name Beno fiel regelmäßig. Die Jungs, die in seiner Truppe waren, waren psychologisch stabil und sprachen mit großer Begeisterung von ihm. Es schien eine gute Stimmung in seinem Team zu sein und dieser Beno schien sehr auf seine Leute zu achten und ihnen eine große Sicherheit zu geben. Begegnet war ich ihm bislang noch nie. Zumindest nicht bewusst. Ich stellte James einige Standardfragen. Er wurde lockerer und ganz redselig. Meiner Meinung nach stand einem weiteren Einsatz nichts entgegen. Er machte einen sehr stabilen Eindruck. Ich schickte ihn mit seiner Mappe zur „Physio“ in den Keller. Diese würde ich nicht mit ihm machen, sondern eine nette Kollegin von mir. Als er raus war, füllte ich die Fragebögen aus und schrieb einen kurzen Bericht. Ein unkomplizierter Fall. An welchem Einsatz er genau teilgenommen hatte, wusste ich nicht. Meist waren dies „Staatsgeheimnisse“. Selten wurden wir darüber unterrichtet, wo sie stattfanden und was dort gemacht wurde. Ich konnte nur aus den Antworten meiner Patienten so manches erahnen.
Der nächste Fall verlief ähnlich. Ein junger Elitesoldat aus der gleichen Einheit, der Ground Branch, wie James davor. Ich begleitete ihn diesmal auch zur Physio in den Keller, machte ein EKG, maß Atmung und Puls und ließ ihn fleißig auf dem Fahrrad strampeln. Ein Extremsportler hätte keine besseren Werte vorweisen können. Dann schickte ich ihn weiter zum Schießstand. Das gehörte nicht mehr zu meinem Resort. Nachdem der letzte Bericht geschrieben war, suchte ich Jessi, um mit ihr zum Lunch zu gehen. Sie schien schon dort zu sein. Ihr Platz war verlassen. Ich ging zur Kantine, kaufte mir eine Zeitung, einen Salat und eine Cola und setzte mich auf die Terrasse in die Sonne. Alle anderen schienen die vollklimatisierte Kantine, die einem Eiskeller glich, vorzuziehen. Ich fühlte mich jedoch hier oben in der Sonne bei einer leichten Brise wesentlich wohler, legte die Beine auf einen Stuhl, blätterte in der Zeitung und kämpfte gegen die aufkommende Müdigkeit.
Schnell zurück in den Eiskeller, dann wurde ich auch wieder munter. Jessi saß bereits wieder an ihrem Platz, als ich zurückkam. Sie wedelte mit einer Akte und deutete aufgeregt in Richtung Büro, während sie das Telefon am Ohr klemmen hatte. Ich verstand sie nicht so richtig und nahm ihr die Akte ab. „Benicio del Santo“, murmelte ich vor mir her, während ich den Gang zu meinem Büro hinunter ging. In Klammern stand dahinter „Beno“. Wieder einer von diesen Jungs. Geboren in Puerto Rico. Ein Latino also, davon gab es hier etliche. Ich sah noch mal genauer hin. „Ach, du gute Güte!“ Das schien ja der Chef höchstpersönlich zu sein! Nach all den Erzählungen und Berichten seiner Jungs hatte ich mir mein eigenes Bild eines mittelalten, zähen Kommandanten um die 50 gemacht. Fast Glatze, durchtrainiert und von den ganzen Einsätzen mit Narben gekennzeichnet. Der Job musste einfach einen Menschen in diese Richtung prägen. Aus Puerto Rico stammend, passte ja schon mal nicht in dieses Bild, und, da stand es ja, er war erst dreiunddreißig! Noch so jung, nur vier Jahre älter als ich. Ich blätterte weiter in der Akte. Und schon zwölf Jahre hier im Dienst. „Na, früh übt sich und immer noch am Leben“, dachte ich sarkastisch. „Dann mal los.“ Ich war sogar ein bisschen aufgeregt und machte mir Mut. Seit zwölf Jahren im Einsatz. Das war eine lange Zeit, so lange hielten nicht alle durch. Die Liste der Einsätze war endlos lang. Schon ziemlich unheimlich so ein Typ! Wie viele Menschen wohl wegen ihm das Leben lassen mussten? Wie oft sein Leben schon am seidenen Faden gehangen war? Als ich mein Büro betrat, musste ich mich erst mal umsehen. Wo war er denn? Ganz hinten am Fenster saß jemand auf einem Stuhl, auf den sich zuvor noch nie ein Patient gesetzt hatte. Ich saß manchmal da hinten, die Füße auf die Heizung gestützt, mit den Unterlagen auf den Knien. Der Blick nach draußen lenkte mich fast immer von meiner Arbeit ab. Dieser Mann hatte ein Knie angezogen und den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt. Es sah aus, als ob er eingeschlafen war. Er rührte sich jedenfalls nicht, als ich den Raum betrat. Auch die Kleidung passte nicht in das übliche Bild. Weißes T-Shirt, das sich perfekt seinem durchtrainierten Oberkörper anpasste, ausgewaschene Jeans und ausgelatschte Cowboystiefel. Der durfte sich ja einiges rausnehmen! Auch sah ich keine kurzgeschorenen Haare, sondern schwarzes mittellanges Haar, das schwer zu bändigen schien. Das war sehr unüblich und machte mich neugierig. „Guten Tag, Beno.“ Ich machte mal den Anfang. Keine Reaktion. Ich ging zu ihm rüber und berührte ihn an der Schulter. „Hallo?“ Langsam glitt ein Arm herunter, er drehte den Kopf und sah mich müde und matt lächelnd an. „Hi.“. Auch wenn er total fertig war, mit dunklen Rändern unter den Augen, sah er umwerfend aus. Ich musste mich erst räuspern, so einen Eindruck hatte bislang noch keiner meiner Patienten auf mich hinterlassen. Eigentlich hatte ich mich, was das anbelangte, ganz gut im Griff. Hübsche Männer waren ja oft dabei, aber der hier toppte alles. Meine Knie waren tatsächlich ganz wackelig, und ich setzte mich auf den Stuhl hinter mir. Hoffentlich merkte er mir nichts an. „Alles gut? Wann bist du denn von deinem letzten Einsatz wiedergekommen?“ Warum duzte ich ihn einfach? Machte ich doch sonst auch nicht. „Letzte Nacht.“ Er sah mich nicht einmal an dabei, sondern starrte aus dem Fenster. „Willst du dich nicht erst mal ausschlafen und dann treffen wir uns morgen früh wieder hier?“ Ich hatte ja fast ein schlechtes Gewissen, ihn mit zur Physio zu schleppen und sah auch wenig Sinn in einer Befragung. Das Gespräch würde wohl auch eher auf einen Monolog meinerseits hinauslaufen. „Okay. Ich werde es mal versuchen“, meinte er müde. „Kannst du denn nicht schlafen?“, fragte ich, ganz der Psychologe und wieder Herr der Lage. „Hatte einfach wenig Gelegenheit dazu.“ Er stand auf und kam zu mir rüber. Er war gut einen halben Kopf größer als ich und sehr athletisch gebaut. „Wann soll ich morgen früh hier sein?“ „Ähm, so gegen 9.00 Uhr und wir machen dann gleich danach die Physio.“ Er sah mich fragend an. „Diesen Gesundheitscheck. Hast du doch bestimmt schon mal gemacht“, meinte ich fast verlegen. Er sah eher so aus, als ob er die Geräte zum Überkochen bringen würde. „Ah ja. Bis morgen dann.“ Er schenkte mir ein erschöpftes und dennoch umwerfendes Lächeln und verließ den Raum. Ich setzte mich erst mal auf meinen Schreibtisch und fächelte mir mit seiner Akte Luft zu. Puh, ich bekam Hitzewallungen. Ob meine Entscheidung richtig war? Durfte ich überhaupt Termine verschieben? Ob er morgen tatsächlich erscheinen würde? Er machte den Eindruck, als ob ihm das alles hier total egal wäre. Keine unnötigen Verpflichtungen. Ich studierte noch eine Weile seine Akte und verließ dann mein Büro. Bevor ich Jessi Bericht erstatten konnte, musste ich erst einmal meine Fassung wiedergewinnen. Sie würde mich bestimmt mit Fragen löchern. Auf dem Flur kam mir General Spencer entgegen. Ein lautpolternder, selbstgefälliger Mann älteren Semesters. Er schien immer in einem militärischen Tarnanzug rumzulaufen. „Und, kann ich das Gutachten von ihrem letzten Patienten haben?“ Manieren schien er auch nicht zu kennen. „Entschuldigen Sie bitte, ich werde es morgen schreiben.“ Er sah mich ungläubig an. „Was? Wie meinen Sie das? Jetzt war der Termin und ich brauche, verdammt noch mal, das Gutachten.“ Sein Kopf lief rot an und ich gruselte mich vor den Schweißperlen auf seinem kahlrasierten Schädel. Was für ein hysterischer Mensch! „Entschuldigen Sie, Sir. Del Santo war zu müde. Wie soll ich jemanden befragen, der im Stehen schläft? Er soll etwas schlafen und frisch morgen früh bei mir erscheinen.“ Er schnaubte verächtlich. „Holen Sie ihn umgehend zurück. Ich brauche augenblicklich das Gutachten. Oder glauben Sie im Ernst, er wird sich morgen nochmal hierher begeben?“ Ich holte tief Luft. Sollte ich mich doch getäuscht haben? „Sir, gleich morgen früh erscheint er hier bei mir. Da bin ich mir sicher. Dann schreibe ich sofort das Gutachten und lege es Ihnen noch bis morgen Mittag vor. Einverstanden?“ Er sah mich durchdringend an. Frauen, die ihre eigene Meinung vertraten und sich nicht von ihm einschüchtern ließen, gingen ihm offensichtlich gegen den Strich. Er hob seinen Zeigefinger und deutete auf mich „Ich warne Sie. Morgen zwölf Uhr. Nicht später!“ Dann rauschte er davon. Ich atmete erst mal tief durch und bog dann langsam in den nächsten Gang ein. Mein Herz raste. Im ganzen letzten Jahr hatte ich noch nicht eine Begegnung dieser Art. Der Knoten meiner Jacke löste sich, und sie fiel zu Boden. Da ich den Stapel Akten trug, konnte ich sie nicht mehr auffangen und hangelte unbeholfen nach ihr. Erst jetzt bemerkte ich, dass neben mir doch tatsächlich Beno stand, lässig gegen die Wand gelehnt, die Hände in den Hosentaschen. Sein Grinsen war fast frech, aber auch das stand ihm unverschämt gut, schoss es mir sofort durch den Kopf. Er musste jedes Wort mitbekommen haben. So ein Flegel! Er bückte sich und hob meine Jacke auf. Dann trat er vor mich, band mir meine Jacke mit einem festen Knoten wieder um die Hüfte und sah mir dabei unverfroren in die Augen. „Dann bis morgen, Kristy. Neun Uhr? Und nimm doch bitte ein paar Laufschuhe mit.“ Wofür denn Laufschuhe? Ich fand allmählich meine Sprache wieder: „Ich rate Dir dringend, morgen zu erscheinen! Ich hänge an meinem Job!“ Er lachte laut auf und verschwand grinsend in die andere Richtung. Ich fühlte, wie mir das Blut in den Kopf schoss. Langsam ärgerte ich mich über diese Hitzewallungen und nahm mir vor, morgen immun gegen sein freches, aber unverschämt charmantes Auftreten zu bleiben. Diesmal war ich vorbereitet und wusste, was mich erwarten würde. „Sei stark!“, dachte ich mir und machte mich mit dringendem Mitteilungsbedarf auf den Weg zu Jessi.
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