„Ja, Tante.“
„Sehr warm, nicht?“
„Ja, Tante.“
„Hast du nicht Lust gehabt, schwimmen zu gehen?“
Wie ein warnender Blitz durchzuckte es Tom, – hatte sie Verdacht? Er suchte in ihrem Gesichte zu lesen, das verriet nichts. So sagte er:
„N – nein. Tante – das heißt nicht viel.“
Die alte Dame streckte die Hand nach Toms Hemdkragen aus, befühlte den und meinte:
„Jetzt ist dir's doch nicht mehr zu warm, oder?“
Und dabei bildete sie sich ein, bildete sich wirklich und wahrhaftig ein, sie habe den trockenen Zustand besagten Hemdes entdeckt, ohne daß eine menschliche Seele ahne, worauf sie ziele. Tom aber wußte genau, woher der Wind wehte, so kam er der mutmaßlich nächsten Wendung zuvor.
„Ein paar von uns haben die Köpfe unter die Pumpe gehalten – meiner ist noch naß, sieh!“
Tante Polly empfand es sehr unangenehm, daß sie diesen belastenden Beweis übersehen und sich so im voraus aus dem Felde hatte schlagen lassen. Ihr kam eine neue Eingebung.
„Tom, du hast doch wohl nicht deinen Hemdkragen abnehmen müssen, den ich dir angenäht habe, um dir auf den Kopf pumpen zu lassen, oder? Knöpf doch mal deine Jacke auf!“
Aus Toms Antlitz war jede Spur von Sorge verschwunden. Er öffnete die Jacke, der Kragen war fest und sicher angenäht.
„Daß dich! Na, mach' dich fort. Ich hätte Gift drauf genommen, daß du heut mittag schwimmen gegangen bist. Wollens gut sein lassen. Dir geht's diesmal wie der verbrühten Katze, du bist besser, als du aussiehst – aber nur diesmal, Tom, nur diesmal!“
Halb war's ihr leid, daß alle ihre angewandte Schlauheit so ganz umsonst gewesen, und halb freute sie sich, daß Tom doch einmal wenigstens, gleichsam unversehens, in den Gehorsam hineingestolpert war.
Da sagte Sidney:
„Ja aber, Tante, hast du denn den Kragen mit schwarzem Zwirn aufgenäht?“
„Schwarz? Nein, er war weiß, soviel ich mich erinnere, Tom!“
Tom aber wartete das Ende der Unterredung nicht ab. Wie der Wind war er an der Türe, rief beim Abgehen Sid noch ein freundschaftliches „wart', das sollst du mir büßen“ zu und war verschwunden.
An sicherem Orte untersuchte er drauf zwei eingefädelte Nähnadeln, die er in das Futter seiner Jacke gesteckt trug, die eine mit weißem, die andre mit schwarzem Zwirn, und brummte vor sich hin:
„Sie hätt's nie gemerkt, wenn's der dumme Kerl, der Sid, nicht verraten hätte. Zum Kuckuck! Einmal nimmt sie weißen und einmal schwarzen Zwirn, wer kann das behalten. Aber Sid soll seine Keile schon kriegen; der soll mir nur kommen!“
Tom war mitnichten der Musterjunge seines Heimatortes, – es gab aber einen solchen und Tom kannte und verabscheute ihn rechtschaffen.
Zwei Minuten später, oder in noch kürzerer Zeit, hatte er alle seine Sorgen vergessen. Nicht, daß sie weniger schwer waren oder weniger auf ihm lasteten, wie eines Mannes Sorgen auf eines Mannes Schultern, nein durchaus nicht, aber ein neues mächtiges Interesse zog seine Gedanken ab, gerade wie ein Mann die alte Last und Not in der Erregung eines neuen Unternehmens vergessen kann. Dieses starke und mächtige Interesse war eine eben errungene, neue Methode im Pfeifen, die ihm ein befreundeter Nigger kürzlich beigebracht hatte, und die er nun ungestört üben wollte. Die Kunst bestand darin, daß man einen hellen, schmetternden Vogeltriller hervorzubringen sucht, indem man in kurzen Zwischenpausen während des Pfeifens mit der Zunge den Gaumen berührt. Wer von den Lesern jemals ein Junge gewesen ist, wird genau wissen, was ich meine, Tom hatte sich mit Fleiß und Aufmerksamkeit das Ding baldigst zu eigen gemacht und schritt nun die Hauptstraße hinunter, den Mund voll tönenden Wohllauts, die Seele voll stolzer Genugtuung. Ihm war ungefähr zumute, wie einem Astronomen, der einen neuen Stern entdeckt hat, doch glaube ich kaum, daß die Freude des glücklichen Entdeckers der seinen an Größe, Tiefe und ungetrübter Reinheit gleichkommt.
Die Sommerabende waren lang. Noch war's nicht dunkel geworden. Toms Pfeifen verstummte plötzlich. Ein Fremder stand vor ihm, ein Junge, nur vielleicht einen Zoll größer als er selbst. Die Erscheinung eines Fremden irgendwelchen Alters oder Geschlechtes war ein Ereignis in dem armen, kleinen Städtchen St. Petersburg. Und dieser Junge war noch dazu sauber gekleidet, – sauber gekleidet an einem Wochentage! Das war einfach geradezu unfaßlich, überwältigend! Seine Mütze war ein niedliches, zierliches Ding, seine dunkelblaue, dicht zugeknöpfte Tuchjacke nett und tadellos: auch die Hosen waren ohne Flecken. Schuhe hatte er an, Schuhe, und es war doch heute erst Freitag, noch zwei ganze Tage bis zumsonntag! Um den Hals trug er ein seidenes Tuch geschlungen. Er hatte so etwas Zivilisiertes, so etwas Städtisches an sich, das Tom in die innerste Seele schnitt. Je mehr er dieses Wunder von Eleganz anstarrte, je mehr er die Nase rümpfte über den „erbärmlichen Schwindel“, wie er sich innerlich ausdrückte, desto schäbiger und ruppiger dünkte ihn seine eigene Ausstattung. Keiner der Jungen sprach. Wenn der eine sich bewegte, bewegte sich auch der andere, aber immer nur seitwärts im Kreise herum. So standen sie einander gegenüber, Angesicht zu Angesicht, Auge in Auge. Schließlich sagt Tom:
„Ich kann dich unterkriegen!“
„Probier's einmal!“
„N – ja, ich kann.“
„Nein, du kannst nicht.“
„Und doch!“
„Und doch nicht!“
„Ich kann's.“
„Du kannst's nicht.“
„Kann's.“
„Kannst's nicht.“
Ungemütliche Pause. Dann fängt Tom wieder an:
„Wie heißt du?“
„Geht dich nichts an.“
„Will dir schon zeigen, daß mich's angeht.“
„Nun, so zeig's doch.“
„Wenn du noch viel sagst, tu' ich's.“
„Viel – viel – viel! Da! Nun komm 'ran!“
„Ach, du hältst dich wohl für furchtbar gescheit, gelt du? Du Putzaff'! Ich könnt' dich ja unterkriegen mit einer Hand, auf den Rücken gebunden, – wenn ich nur wollt'!“
„Na, warum tust du's denn nicht? Du sagst's doch immer nur!“ “Wart, ich tu's, wenn du dich mausig machst!“
„Ja, ja, sagen kann das jeder, aber tun – tun ist was andres.“
„Aff' du! Gelt du meinst, du seist was Rechtes? – Puh, was für ein Hut!“
„Guck' wo anders hin, wenn er dir nicht gefällt. Schlag' ihn doch runter! Der aber, der 's tut, wird den Himmel für 'ne Baßgeig' ansehen!“
„Lügner, Prahlhans!“
„Selber!“
„Maulheld! Gelt, du willst dir die Hände schonen?“
„Oh – geh heim!“
„Wart, wenn du noch mehr von deinem Blödsinn verzapfst, so nehm' ich einen Stein und schmeiß ihn dir an deinem Kopf entzwei.“
„Ei, natürlich, – schmeiß nur!“
„Ja, ich tu's!“
„Na, warum denn nicht gleich? Warum wartst du denn noch? Warum tust du 's nicht? Ätsch, du hast Angst!“
„Ich Hab' keine Angst.“
„Doch, doch!“
„Nein, ich hab' keine.“
„Du hast welche!“
Erneute Pause, verstärktes Anstarren und langsames Umkreisen. Plötzlich stehen sie Schulter an Schulter. Tom sagt:
„Mach' dich weg von hier!“
„Mach' dich selber weg!“
„Ich nicht!“
„Ich bestimmt nicht!“
So stehen sie nun fest gegeneinander gepreßt, jeder als Stütze ein Bein im Winkel vor sich gegen den Bodenstemmend, und schieben, stoßen und drängen sich gegenseitig mit aller Gewalt, einander mit wutschnaubenden, haßerfüllten Augen anstarrend. Keiner aber vermag dem andern einen Vorteil abzugewinnen. Nachdem sie so schweigend gerungen, bis beide ganz heiß und glühendrot geworden, lassen sie wie auf Verabredung langsam und vorsichtig nach und Tom sagt:
„Du bist ein Feigling und ein Aff' dazu. Ich sag's meinem großen Bruder, der haut dich mit seinem kleinen Finger krumm und lahm, wart nur!“
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