„Das brauchst du nicht vorher zu wissen, Tom, du weißt, wenn ich sag, es ist schön, so ist's wirklich was Schönes.“
„Ja, das weiß ich. Also vorwärts, gib das Buch wieder her, Mary, wollen's schon kriegen.“
Und er „kriegte“ es wirklich und zwar mit Glanz unter dem Doppeldruck von Neugierde und voraussichtlichem Gewinn.
Mary gab ihm nach bestandener Probe ein funkelnagelneues Taschenmesser, das mindestens eine Mark wert war unter Brüdern. Eine feine Damaszenerklinge hatte es ja wohl nicht, auch keinen schon verzierten eingelegten Griff von Elfenbein, aber um den Tisch anzuschnitzen war's gerade recht, was Tom sofort probierte, und als er sich darauf seelenvergnügt eben an den Schrank machen wollte, wurde er abgerufen, um sich zur Sonntagsschule in den Staat zu werfen.
Mary reichte ihm eine Blechschüssel mit Wasser und ein Stück Seife, womit er sich in den Hof begab. Hier stellte er die Schüssel auf eine Bank, tauchte die Seife ins Wasser, legte solche dann zur Seite, goß das Wasser aus, stülpte die Ärmel auf und kam wieder zur Küche herein, um sich eiligst sein trockenes Gesicht am Handtuch hinter der Türe abzuwischen, Mary aber riß ihm das Tuch weg und sagte:
„Schämst du dich nicht, Tom? Das heiß ich betrügen! Wasser wird dir nichts schaden!“
Tom war ein wenig aus der Fassung gebracht. Die Schüssel wurde wieder gefüllt und diesmal stand er eine kleine Weile davor, um sich Mut zu machen, schöpfte dann tief Atem und begann das große Werk der wöchentlichen Reinigung. Wie er nun zum zweitenmal die Küche betrat, sich mit krampfhaft geschlossenen Augen und ausgestreckten Händen nach dem Tuche hintastend, bewiesen Seifenschaum und Wasser, die von seinem Antlitz niederströmten, seine Ehrlichkeit glänzend. Als er dann aber hinter dem Tuche hervortauchte, war die schwere Prozedur noch nicht zur Zufriedenheit ausgefallen. Das reine Gebiet erstreckte sich nur bis zum Rande der Kinnlade, wo es ein Ende hatte, gleich einer Maske. Außerhalb dieser Linie zeigte sich die ganze Partie um Hals und Ohren in unberührt schwärzlichem Zustand. Nun legte Mary Hand an, und als sie fertig war, bot Tom das Bild eines reinlichen, ehrlichen Christenmenschen, ohne Unterschied der Farbe. Sein feuchtes Haar war schön gebürstet und die sonst so widerspenstigen Locken kräuselten sich in ordentlich rührender Ergebung. Diese Locken waren Toms Qual, er hielt sie für weibisch, schämte sich ihrer und tat sein Möglichstes, sie mit Hilfe von Fett und Wasser fest am Kopfe anzukleben. Daß ihm dies nur teilweise und unbefriedigend gelang, erfüllte sein Herz mit Bitternis. Jetzt holte Mary seinen Sonntagsanzug, den er während zweier Jahre nur an diesem geheiligten Tage getragen. Man sprach davon einfach nur als von „den anderen Kleidern“, und daraus läßt sich leicht auf den Umfang von Toms Garderobe schließen. Als er sich dann hineingestreckt in diese „anderen Kleider“, legte Mary die letzte verbessernde Hand an, knöpfte die Jacke zu, zog ihm den riesigen, weißen Kragen an, bürstete ihn aus und krönte das Ganze mit einem braunen, gelb gefleckten Strohhut. Tom sah nun ungemein ehrbar und unbehaglich aus und fühlte sich auch nicht minder unbehaglich, als er aussah. Für ihn lag ein fast unerträglicher Zwang in ganzen und sauberen Kleidern, ein Zwang, der ihn fortwährend reizte. Er hoffte, Mary würde wenigstens seine Schuhe vergessen, aber diese Hoffnung erwies sich als trügerisch; ehe er sich's versah, standen die Marterwerkzeuge, ordentlich mit Talg eingeschmiert, wie es so Sitte war, lieblich lockend vor ihm. Jetzt verlor er völlig die Geduld und schalt und brummte, er solle immer alles tun, was er absolut nicht möge. Mary aber bat und schmeichelte:
„Bitte, Tom, sei so gut, bitte!“
So fuhr er denn brummend hinein in die schwarzen Plagegeister, blieb aber bei sehr gereizter, übler Laune. Mary war auch bald fertig und die drei Kinder machten sich zusammen auf nach der Sonntagsschule, einem Ort, den Tom ebenso sehr haßte, wie ihn Sid und Mary liebten.
Die Sonntagsschule dauerte von neun bis halb elf, danach kam noch der Gottesdienst, Bei diesem blieben immer zwei unserer kleinen Freunde freiwillig zugegen, der dritte auch, aber ihn lockte etwas anderes als die Predigt. Die Kirche selbst war klein und schmucklos, sie mochte in ihren geraden, hochlehnigen Bänken vielleicht dreihundert Menschen fassen. An der Tür zögerte Tom und ließ die anderen vorgehen, während er einen sonntäglich herausgeputzten Kameraden anredete:
„Sag' mal, Bill, hast du 'nen gelben Zettel?“
„Ja!“
„Was willst du dafür haben?“
„Was gibst du mir?“
„Ein Stück Süßholz und einen Angelhaken.“
„Zeig mal her.“
Tom zeigte her, Bill prüfte und fand das Gebotene des Zettels wert, so tauschten sie das Eigentum. Danach handelte Tom noch drei rote und zwei blaue Zettel gegen einige ähnliche kostbare Artikel ein. Zehn, fünfzehn Minuten lang fuhr er in dieser Beschäftigung fort, jagte allen möglichen Jungen Zettel in allen möglichen Farben ab und hatte nach Verlauf dieser Zeit eine recht stattliche Anzahl zusammen, die er schmunzelnd in die Tasche schob. Nun endlich betrat er inmitten eines Schwarms sonntäglich gesäuberter, aber etwas geräuschvoller Jungen und Mädchen die Kirche, setzte sich auf seinen Platz und begann sofort mit dem ersten besten Streit. Der Lehrer, ein ernster, gutmütig aussehender Herr, trat dazwischen, wandte dann aber für einen Moment den Rücken, was Tom sofort dazu benutzte, einem Jungen auf der vorderen Bank in die Haare zu fahren und einem anderen mit einer Nadel in den Arm zu stechen. Der Getroffene fuhr drauf mit einem zornigen „autsch“ herum, was ihm, da Tom mit Unschuldsmiene in sein Buch starrte, einen strengen Verweis des Lehrers zuzog. Toms ganze Klasse schien nach seinem Muster zugeschnitten – unruhig, unaufmerksam, voller Tollheiten. Als sie ans Aufsagen kamen, wußte nicht einer seine Verse vollständig, doch stolperten sie durch mit Hängen und Würgen, so gut es eben ging. Die Belohnung für zwei fehlerlos aufgesagte Verse bestand in einem kleinen, blauen Zettel, auf den ein Bibelvers gedruckt war. Zehn blaue Zettel konnten für einen roten eingetauscht werden, zehn rote wiederum für einen gelben. Für zehn gelbe erhielt man dann vom Herrn Vikar eine kleine, sehr einfach gebundene Bibel, die unter Brüdern vielleicht vierzig Cents wert war. Wer unter meinen Lesern besäße wohl den Fleiß und die Ausdauer, zweitausend Bibelverse auswendig zu lernen und wenn man ihm eine Prachtbibel von Dors böte? Und doch hatte sich Mary zwei solcher Bibeln erobert, es war die geduldige, mühsame Arbeit zweier Jahre. Nur die älteren, vernünftigen und ernsten Schüler brachten es fertig, ihre Zettel zu sammeln und dieses langwierige und langweilige Werk so lange durchzuführen, bis sie eine Bibel erhalten konnten. Eben durch dies mühsame Erringen aber wurde die Auslieferung des hohen Preises jedesmal zu einer feierlichen, denkwürdigen Begebenheit. Der also Gefeierte erschien so groß und erhaben an einem solchen Ehrentage, daß sich beim Anblick seiner Größe in der Brust jeglichen Zuschauers ein heiliger Eifer und Ehrgeiz entzündete, der oftmals sogar viele Wochen anhielt. Auch Toms glühendster Wunsch war es, einmal auf diese Weise ausgezeichnet zu werden; nicht der Bibel halber, bewahre, ihm ging's um die Ehre und den Ruhm, den Glanz, der die ganze Zeremonie umstrahlte.
Nun trat der Herr Vikar, der die Sonntagsschule leitete, vor, ein kleines Testament zugeklappt in der Hand haltend, zwischen dessen Blättern sich der eine Zeigefinger barg, und bat um Aufmerksamkeit. Wenn ein Sonntagsschulvikar seine herkömmliche kleine Ansprache hält, so ist ihm ein Testament in der Hand so notwendig, wie das unvermeidliche Notenblatt dem Sänger, der das Podium betritt, um das Konzertpublikum mit einem Solo zu beglücken, – das Warum bleibt freilich ein Rätsel, denn weder Testament, noch Notenblatt wird von dem betreffenden Dulder je eines Blicks gewürdigt werden. Dieser Herr Vikar nun war eine etwas schmächtige, überschlanke Figur von etwa fünfundzwanzig Jahren, mit sandgelbem Bocksbart und sandgelben Haaren. Seine Miene war ernst, und feierlich war auch der Tom seiner Stimme, als er nach dem Muster der gewöhnlichen Sonntagsschulredner begann:
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