»Gasin! Man hat dir deinen Branntwein gestohlen!«
Er schleuderte den Trog zu Boden und stürzte sich wie wahnsinnig aus der Küche.
»Nun, Gott hat ihn gerettet!« sprachen die Arrestanten unter sich.
Man sprach dann noch lange darüber.
Später konnte ich nicht feststellen, ob jene Nachricht vom Diebstahl des Branntweins auf Wahrheit beruhte oder nur zu unserer Rettung erfunden worden war.
Abends, schon in der Dunkelheit, kurz bevor die Kasernen zugesperrt wurden, ging ich längs der Palisaden umher, und eine schwere Trauer bedrückte mir das Herz; eine solche Trauer habe ich in meinem ganzen späteren Zuchthausleben nicht mehr empfunden. So schwer ist der erste Tag der Einkerkerung, wo es auch sei, ob im Zuchthause, in der Kasematte oder im Gefängnis ... Aber ich besinne mich, dass mich am meisten ein Gedanke beschäftigte, der mich auch später während meines ganzen Zuchthauslebens ständig verfolgte, ein zum Teil unlösbarer Gedanke, den ich auch jetzt nicht zu lösen vermag: es ist der Gedanke von der Ungleichheit der Bestrafung der gleichen Verbrechen. Allerdings darf man auch die Verbrechen nicht miteinander vergleichen, nicht einmal annähernd. Ein Beispiel: der eine und der andere haben einen Mord begangen; man hat alle Umstände beider Verbrechen erwogen, und in beiden Fällen bekommt der Verbrecher die gleiche Strafe. Man bedenke aber, was für ein Unterschied zwischen den beiden Verbrechen besteht. Der eine hat z.B. einen Menschen um nichts und wieder nichts, wegen einer Zwiebel, umgebracht: er ging auf die Landstraße und ermordete einen zufällig vorbeifahrenden Bauern, der außer einer Zwiebel nichts bei sich hatte. »Was ist zu machen, Vater! Du hast mich nach Beute ausgesandt, da habe ich einen Bauern erschlagen und bei ihm nur eine Zwiebel gefunden.« – »Dummkopf! Die Zwiebel ist ja nur eine Kopeke wert! Hundert Seelen sind hundert Zwiebeln, das macht zusammen einen Rubel!« (Eine Zuchthauslegende.) Der andere beging aber den Mord zur Verteidigung der Ehre seiner Braut, seiner Schwester, seiner Tochter vor einem wollüstigen Tyrannen. – Ein anderer beging den Mord als Landstreicher, von einem ganzen Regiment von Spitzeln verfolgt, zur Verteidigung seiner Freiheit und seines Lebens, oft den Hungertod vor Augen; ein anderer schlachtete aber kleine Kinder aus Freude am Schlachten, um auf seinen Händen ihr warmes Blut zu fühlen und sich an ihrer Todesangst, wenn sie wie die Tauben unter dem Schlachtmesser zuckten, zu weiden. Und was sehen wir? Der eine und der andere kommen ins gleiche Zuchthaus. Es gibt allerdings Abstufungen in der Dauer der Zuchthausstrafe. Solche Abstufungen gibt es aber verhältnismäßig wenig; die Unterschiede bei der gleichen Art von Verbrechen sind aber zahllos. Jeder Charakter liefert einen neuen Unterschied. Nehmen wir aber an, dass es unmöglich sei, diese Unterschiede auszugleichen; es sei eine unlösbare Aufgabe wie die Quadratur des Zirkels; nehmen wir es an. Aber selbst wenn diese Ungleichheit nicht vorhanden wäre, beachte man den andern Unterschied, nämlich den in den Folgen der Bestrafung ... Da ist ein Mensch, der im Zuchthause wie ein Licht dahinschwindet und hinsiecht; da ist ein anderer, der vor seinem Eintritt ins Zuchthaus gar nicht gewußt hat, dass es in der Welt ein so lustiges Leben, einen so angenehmen Klub voll fröhlicher Gesellschaft gibt. Es gibt im Zuchthause auch solche Menschen. Da ist z. B. ein gebildeter Mensch mit hoch entwickeltem Gewissen, Bewußtsein und Herzen. Schon die Qual seines eigenen Herzens wird ihn schneller als jede Strafe umbringen. Er selbst wird sich wegen seines Verbrechens unbarmherziger und grausamer als das allerstrengste Gesetz verurteilen. Und neben ihm ist ein anderer, der während seines ganzen Zuchthauslebens kein einziges Mal an den von ihm begangenen Mord zurückdenkt. Er glaubt sogar noch im Rechte zu sein. Es gibt aber auch manchen, der ein Verbrechen absichtlich begeht, nur um ins Zuchthaus zu kommen und so das viel schwerere Zuchthausleben in der Freiheit zu fliehen. Dort lebte er auf der tiefsten Stufe der Erniedrigung, aß sich kein einziges Mal satt und arbeitete für seinen Unternehmer von früh bis spät; im Zuchthause ist aber die Arbeit leichter als daheim, er bekommt genügend Brot, und zwar von einer Güte, wie er es noch nie gesehen hat, und an Feiertagen Fleisch; außerdem bekommt er milde Gaben und hat die Möglichkeit, sich ein paar Kopeken zu verdienen. Und die Gesellschaft? Es sind durchtriebene, geschickte, erfahrene Leute, und er sieht seine Genossen mit respektvollem Erstaunen an; er hat ja noch nie solche Menschen gesehen; er hält sie für die beste Gesellschaft, die es überhaupt geben kann. Ist denn die Strafe für diese beiden Menschen wirklich gleich empfindlich? Aber wozu soll ich mich mit unlösbaren Fragen abgeben! Die Trommel schlägt, es ist Zeit, in die Kasernen zu gehen.
Es begann die letzte Kontrolle. Nach dieser Kontrolle wurden die Kasernen geschlossen, eine jede mit einem eigenen Schlosse, und die Arrestanten blieben bis zum Tagesanbruch eingesperrt.
Die Kontrolle wurde von einem Unteroffizier mit zwei Soldaten vorgenommen. Zu diesem Zweck wurden die Arrestanten manchmal im Hofe aufgestellt, und es kam der Wachoffizier. Meistens wurde aber diese Zeremonie auf vereinfachte Art, in den Kasernen selbst besorgt. So war es auch diesmal. Die Kontrollierenden verrechneten sich oft und kamen dann wieder. Schließlich hatten die armen Wachsoldaten die gewünschte Zahl errechnet und sperrten die Kaserne zu. In derselben befanden sich an die sechzig Mann Arrestanten, die auf ihren Pritschen ziemlich eng zusammengedrängt waren. Zum Schlafen war es noch zu früh. Ein jeder musste sich selbstverständlich noch mit irgend etwas beschäftigen.
Von den Vorgesetzten blieb in der Kaserne nur der Invalide zurück, den ich früher erwähnt habe. Außerdem gab es in jeder Kaserne einen Ältesten, den der Platzmajor aus der Zahl der Arrestanten wegen besonders guter Aufführung wählte. Es kam sehr oft vor, dass diese Ältesten sich etwas Schlimmes zu Schulden kommen ließen; dann wurden sie mit Ruten gezüchtigt, ihres Amtes enthoben und durch andere ersetzt. In unserer Kaserne war der Älteste Akim Akimytsch, der die Arrestanten zu meinem Erstaunen recht oft anschrie. Die Arrestanten antworteten ihm gewöhnlich mit Spöttereien. Der Invalide war klüger als er und mischte sich in nichts ein, und wenn es doch vorkam, dass er den Mund auftun musste, so tat er es mehr anstandshalber, zur Beruhigung seines Gewissens. Sonst saß er schweigend auf seinem Bett und nähte an einem Stiefel. Die Arrestanten schenkten ihm fast keine Beachtung.
Gleich am ersten Tage meines Zuchthauslebens machte ich eine Wahrnehmung, von deren Richtigkeit ich mich später überzeugte. Alle Nichtarrestanten nämlich, wer sie auch sein mochten, von den unmittelbaren Vorgesetzten, den Wachtposten und Begleitmannschaften aufwärts, sowie alle, die nur irgend etwas mit dem Zuchthause zu tun hatten, sahen die Arrestanten mit übertriebener Ängstlichkeit an, als erwarteten sie jeden Augenblick voller Unruhe, dass der Arrestant sich mit einem Messer auf einen von ihnen stürzen würde. Noch auffallender war dabei, dass die Arrestanten sich selbst dieser Angst, die sie einflößten, bewußt waren, und dies verlieh ihnen offenbar Courage. Aber trotz dieser Courage ist es den Arrestanten selbst viel angenehmer, wenn man ihnen Vertrauen entgegenbringt. Damit kann man sie sogar gewinnen. Während meines Zuchthauslebens kam es, wenn auch sehr selten vor, dass einer der Vorgesetzten das Zuchthaus ohne Begleitmannschaften betrat. Man muss gesehen haben, welch einen Eindruck, und zwar welch einen guten Eindruck es auf die Arrestanten machte. So ein furchtloser Besucher erweckte immer Respekt, und wenn überhaupt etwas Schlimmes passieren konnte, so passierte es niemals in seiner Anwesenheit. Die Arrestanten verbreiten überhaupt ständig Angst um sich, und ich weiß wirklich nicht, woher es kommt. Zum Teil ist sie natürlich schon in der äußeren Erscheinung des Arrestanten, den man als einen Schwerverbrecher kennt, begründet. Außerdem hat jeder, der mit dem Zuchthaus in Berührung kommt, das Gefühl, dass dieser ganze Menschenhaufen sich hier nicht aus freiem Willen versammelt hat und dass man einen lebendigen Menschen durch keinerlei Maßregeln zu einer Leiche machen kann; der Mensch behält seine Gefühle, seinen Durst nach Rache und nach freiem Leben, seine Leidenschaften und das Bedürfnis, diese zu befriedigen. Trotzdem bin ich entschieden davon überzeugt, dass man keinen Grund hat, die Arrestanten zu fürchten. Ein Mensch stürzt sich nicht so leicht und so schnell mit einem Messer auf seinen Mitmenschen. Mit einem Worte, wenn eine Gefahr überhaupt möglich und vorhanden ist, so ist sie angesichts der Seltenheit solcher unglücklicher Vorkommnisse außerordentlich gering. Natürlich spreche ich jetzt nur von den endgültig verurteilten Arrestanten, von denen viele sich sogar freuen, dass sie ins Zuchthaus geraten sind (so schön kommt ihnen zuweilen dieses neue Leben vor!), und folglich den Vorsatz haben, ruhig und friedlich zu leben; außerdem werden sie es nicht dulden, dass ihre unruhigen Kameraden sich etwas Außerordentliches erlauben. Jeder Zuchthäusler, wie kühn und frech er auch sei, fürchtet sich im Zuchthause vor allem. Mit den unter Anklage stehenden Arrestanten verhält es sich dagegen anders. So einer ist tatsächlich imstande, sich ohne jeden besonderen Grund auf einen beliebigen Menschen zu stürzen, einzig aus dem Grunde, weil er z. B. morgen seine Körperstrafe abbüßen muss; wenn er sich aber etwas Neues zu Schulden kommen läßt, so wird diese Strafe hinausgeschoben. So ein Überfall hat also einen Grund und einen Zweck, nämlich »sein Los zu verändern«, und zwar um jeden Preis und so schnell wie möglich. Ich kenne sogar einen psychologisch seltsamen Fall in dieser Art.
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