Schweigend sah der Arzt mich an.
»Ich kann mich nicht erinnern«, flüsterte ich, da meine Stimme noch immer nicht zurückgekehrt war.
»Beruhigen Sie sich«, sagte er und musterte mit kurzem, geschultem Blick meinen Gesichtsverband. »Es kommt öfter vor, dass bei Kopfverletzungen Erinnerungslücken auftreten.«
Erinnerungslücken? Wovon redete der Mann? Lücken? Ich hatte meine Erinnerungen vollkommen verloren. Mit Lücken hätte ich im Moment gut leben können.
»Ich kann mich an gar nichts erinnern!«, brachte ich hervor. Die Panik und Wut, die ich fühlte, ließen meine Stimme fester klingen. Jedoch machte mir irgendetwas im Hals Schwierigkeiten. Dann begriff ich plötzlich, dass es der Schlauch einer Magensonde oder etwas Ähnliches sein musste.
Dr. Gajewski ignorierte meinen Gefühlsausbruch. »Wie ich schon sagte«, wiederholte er sich mit nüchterner Freundlichkeit, »kommt eine vorläufige Amnesie bei Kopfverletzungen häufiger vor. Das wird sich mit der Zeit wieder geben.«
Sollte ich ihm das glauben? Irgendwo in meinem Hirn tat sich ein Spalt der Erinnerung auf und es schien mir, dass ich davon schon einmal gehört hatte, aber das konnte auch alles Einbildung sein. Ich war einfach nur verwirrt.
»Was ist passiert?«, fragte ich den Arzt abermals. Der Doktor begann sich das Kinn zu reiben und rückte schließlich die Brille zurecht. »Sie sind ein ungewöhnlicher Fall.« Er machte eine Pause. Das ging mir alles zu langsam. Ich hätte gerne nachgeholfen, so begierig war ich, mehr über meinen „ungewöhnlichen Fall“ zu erfahren.
»Können Sie mir Ihren Namen sagen?« Nun war die Katze aus dem Sack: Der Mann in Weiß wusste nicht viel mehr als ich auch!
»Und Sie? Können Sie ihn mir sagen?«, entgegnete ich ihm etwas bissig.
Anstatt Ärger trat ein verständnisvolles Lächeln in sein Gesicht und sein Blick gab mir irgendwie Trost.
»Ich kann mir vorstellen, wie Sie sich fühlen. Sie sind verunsichert und Sie haben keine Ahnung, warum Sie überhaupt hier sind. Ich will versuchen Ihnen zu helfen. Beginnen wir damit, dass ich Ihnen erzähle, was ich weiß.«
Um ihn bloß nicht aufzuhalten, schwieg ich und sah ihn erwartungsvoll an. Er rückte seine Brille zurecht und räusperte sich.
»Vor knapp vier Monaten wurden Sie mit starken Verbrennungen im Gesicht und unzähligen Prellungen hier bei uns ins St. Michael Hospital in Kassel eingeliefert. Der Grund Ihrer Verletzungen war ein Autounfall auf der A 49, einige Kilometer vor Kassel. Sie können von Glück sagen, dass Sie mit dem Leben davongekommen sind. Es grenzt fast an ein Wunder.«
Dr. Gajewski machte eine Pause und sah mich an. Er beobachtete, wie ich es aufnahm.
Ich hörte seinem Monolog mit einer Gelassenheit zu, als wäre nicht ich die Person, über die da gesprochen wurde. Erst als ich mich zwang, diese Geschichte so zu akzeptieren - was blieb mir auch anderes übrig, außerdem klang sie wahrheitsgetreu - erst da stellten sich allmählich Emotionen bei mir ein. Vier Monate ohne Bewusstsein, dachte ich.
»Im Koma?«, murmelte ich vor mich hin und starrte zur Decke.
»Ja, Ihre Kopfverletzungen hatten diesen Zustand ausgelöst. Aber machen Sie sich deshalb keine Sorgen mehr. Sie sind auf dem Wege der Besserung.« Der Arzt tätschelte mir abermals den Arm, wohl um mir Mut zu machen, dann sagte er irgendetwas von … Ruhe, ich bräuchte noch etwas Ruhe … wir könnten uns morgen weiter unterhalten … bis dann also … Er verließ mit der Schwester den Raum.
Ich reagierte nicht, konnte nichts sagen, ich war zu sehr mit meinen Gedanken beschäftigt. Es gab bedeutendere Dinge, über die ich nachsinnen musste, als diesen Doktor zu verabschieden.
Koma, ein Wort, das ich kannte. Es war offensichtlich aktiver Bestandteil meines Sprachschatzes. Ich wusste jedenfalls etwas damit anzufangen.
Vier Monate hatte ich einfach dahinvegetiert und konnte von Glück reden, dass dieser Zustand nicht ewig angehalten hatte. Aber plötzlich schoss mir ein aberwitziger Gedanke durch den Kopf: Was war, wenn ich immer noch im Koma lag und das hier nur Gespinste eines geplagten und erschütterten Gehirns waren!
Angestrengt versuchte ich, meinen rechten Arm zu bewegen. Kraftlos schien er neben mir zu liegen und nur mühsam gehorchten die Muskeln meinem Befehl. Doch dann bewegte er sich langsam zu meinem Gesicht. Es geschah wie in Zeitlupe, wie im Traum. Ich brauchte Gewissheit, ob dies die Realität war. Meine Finger tasteten sich vor bis zum Schlauch der Magensonde. Leicht zog ich an ihm, aber es rührte sich nichts. Dann fühlte ich den Klebstreifen, mit dem der Schlauch an dem Verband befestigt war, und ich begann ihn zu lösen. Abermals zog ich leicht an dem Schlauch und dieses Mal bewegte er sich. Ich spürte einen geringen Schmerz in meiner Nase und das genügte mir. Vorsichtig schob ich den Schlauch zurück und befestigte ihn wieder mit dem Klebstreifen. Ich war wach, konnte nur wach sein. Das schien mir nun gewiss.
Dieser Schmerz war real gewesen. In Träumen kam Schmerz so konkret nicht vor, das wusste ich. Woher? Einige grundsätzliche Erinnerungen waren mir wohl geblieben und doch war ich voller Zweifel. Immer neue Gedanken und Überlegungen kreisten durch mein Gehirn – ohne jedes Ergebnis. Die Zeit musste Aufschluss bringen, sagte ich mir, und schloss mich damit Dr. Gajewski an. ‚Erinnerungslücken kommen bei Kopfverletzungen häufiger vor.’ Na schön, es würde sich also alles aufklären. Doch dann bedrängte mich eine andere Stimme, die mir sagte: Wer weiß, ob es sich jemals aufklären wird. Und vielleicht willst du es ja gar nicht. Vielleicht würdest du gar nicht vermissen, was du vergessen hast. Stimmen über Stimmen drangen auf mich ein und fast glaubte ich, dass ich nicht nur an Amnesie, sondern auch an Schizophrenie litt. Ich atmete tief durch und versuchte mich abzulenken. Diese verdammten Stimmen!
Allmählich gelang es mir, mich in den Griff zu bekommen und Ruhe kehrte ein. Ich starrte einfach zur Decke und versuchte an nichts zu denken. Wie durch ein Wunder funktionierte es und ein friedliches Gefühl erfüllte mich. Ich spürte noch, wie mich eine tiefe Müdigkeit umfing, und schlief ein.
Ich hörte die Wellen, wie sie am steinigen Ufer rieben. Sah den Fluss, der sich durch das Tal schlängelte. Ich sog den Duft von Tannen in mich ein, bis er mich berauschte. Ich genoss den Wein in vollen Zügen und sah die Reben, die ihn hervorgebracht hatten.
Ich war zu Hause. Ein Glücksgefühl! Geborgenheit!
Plötzlich befand ich mich in einem Raum, der aussah wie eine Bibliothek, und ich wusste, dass dieser Raum nur einer von unzähligen Räumen war. Ich war in einer Villa.
Sie war mir vertraut. Aber ein nicht zu beschreibendes Gefühl der Angst lastete schwer auf mir und ich vermochte nicht es abzuschütteln. Ich schlich durch die Bibliothek, schaute auf die unzähligen Bücher, die ordentlich in Regalen und Schränken standen. Dann erblickte ich das Fenster, ein riesengroßes Fenster, das gleißendes Licht in den Raum warf, und ich hielt darauf zu. Meine Augen brannten und ich kniff sie zusammen. Dann öffnete ich das Fenster und sah hinaus auf meine Heimatstadt. Wie im Nebel lag sie zu meinen Füßen, nur schemenhaft waren die Häuser zu erkennen. Zunehmend verschwamm das Bild vor meinen schmerzenden Augen..
»Hallo!«, hörte ich eine weibliche Stimme sagen und jemand berührte meine Hand.
Erschreckt schlug ich die Augen auf und sah in das lächelnde Gesicht der Schwester.
Ich brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, wo ich mich befand.
»Sie haben im Schlaf gestöhnt und Ihren Kopf von einer Seite zur anderen geworfen. Ich hielt es für besser, Sie zu wecken. Außerdem wird Dr. Gajewski gleich nach Ihnen sehen.«
Sie behielt ihr Lächeln auf den Lippen und hätte mein Verband nicht gestört, ich hätte zurückgelächelt, so wohltuend war es.
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