Es war der schönste und ruhmreichste Tag seiner Geschichte. Dies war sein letzter Kampf. Wir hatten willig in allem resigniert, was Macht war, Reichtum und Besitz. Wir hatten die Provinzen geopfert, niemand trachtete danach, von einem Nachbarlande, von Böhmen, von Ungarn, von Italien, von Deutschland auch nur einen Zoll zurückzuerobern. Wir waren vielleicht immer schlechte Patrioten im politischen Sinne gewesen, aber nun fühlten wir: unsere wahre Heimat war unsere Kultur, unsere Kunst. Hier wollten wir nicht nachgeben, hier uns von niemandem übertreffen lassen, und ich wiederhole, es ist das ehrenvollste Blatt in der Geschichte Wiens, wie es diese seine Kultur verteidigt hat. Nur ein Beispiel dafür: ich bin viel gereist, ich habe viele wunderbare Aufführungen gesehen, in der Metropolitan Opera unter Toscanini und die Ballette von Leningrad und Mailand, ich habe die größten Sänger gehört, aber ich muss bekennen, dass ich niemals von einer Leistung innerhalb der Kunst so erschüttert war wie von der Wiener Oper in den Monaten unmittelbar nach dem Zusammenbruch 1919. Man tappte hin durch dunkle Gassen – die Beleuchtung der Straßen war eingeschränkt wegen der Kohlennot –, man zahlte sein Billett mit ganzen Stößen wertloser Banknoten, man trat endlich ein in das vertraute Haus und erschrak. Grau war der Raum mit seinen wenigen Lichtern und eiskalt; keine Farbe, kein Glanz, keine Uniformen, kein Abendanzug. Nur dicht aneinander gedrängt in der Kälte in alten zerschlissenen Winterröcken und umgeschneiderten Uniformen die Menschen, eine graue fahle Masse von Schatten und Lemuren. Dann kamen die Musiker und setzten sich an ihre Plätze im Orchester. Wir kannten jeden einzelnen von ihnen, und man erkannte sie doch kaum. Abgemagert, gealtert, ergraut saßen sie da in ihren alten Fräcken. Wir wussten, diese großen Künstler waren zurzeit schlechter bezahlt als jeder Kellner, jeder Arbeiter. Ein Schauer fiel einem auf das Herz, es war soviel Armut und Sorge und Jammer in diesem Raum, eine Luft von Hades und Vergängnis. Dann hob der Dirigent den Taktstock, die Musik begann, das Dunkel fiel, und mit einmal war der alte Glanz wieder da. Nie wurde besser gespielt, nie wurde besser gesungen in unserer Oper als in jenen Tagen, da man nicht wusste, ob am nächsten Tage das Haus nicht schon geschlossen werden müsste. Keiner von den Sängern, keiner von unseren wunderbaren Musikern hatte sich weglocken lassen von den besseren Honoraren in anderen Städten, jeder hatte gespürt, dass es seine Pflicht war, gerade jetzt das Höchste, das Beste zu geben und das Gemeinsame zu bewahren, das uns das wichtigste war: unsere große Tradition. Das Reich war dahin, die Straßen waren verfallen, die Häuser sahen aus wie nach einer Beschießung, die Menschen wie nach schwerer Krankheit. Alles war vernachlässigt und halb schon verloren; aber dies eine, die Kunst, unsere Ehre, unseren Ruhm, die verteidigten wir in Wien, jeder einzelne, tausend und tausend Einzelne. Jeder arbeitete doppelt und zehnfach, und auf einmal spürten wir, dass die Welt auf uns blickte, dass man uns erkannte, so wie wir uns selbst erkannt hatten.
So haben wir durch diesen Fanatismus für die Kunst, durch diese so oft verspottete Leidenschaft Wien noch einmal gerettet. Weggestoßen aus der Reihe der großen Nationen, haben wir doch unseren altbestimmten Platz innerhalb der Kultur Europas bewahrt. Die Aufgabe, eine überlegene Kultur zu verteidigen gegen jeden Einbruch der Barbarei, diese Aufgabe, die die Römer uns in die Mauern unserer Stadt eingemeißelt, wir haben sie bis zur letzten Stunde erfüllt.
Wir haben sie erfüllt in dem Wien von gestern und wir wollen, wir werden sie weiter erfüllen auch in der Fremde und überall. Ich habe von dem Wien von gestern gesprochen, dem Wien, in dem ich geboren bin, in dem ich gelebt habe und das ich vielleicht jetzt mehr liebe als je, seit es uns verloren ist. Von dem Wien von heute [1940] vermag ich nichts zu sagen. Wir wissen alle nicht genau, was dort geschieht, wir haben sogar Angst, es allzu genau uns vorzustellen. Ich habe in den Zeitungen gelesen, dass man Furtwängler berufen hat, das Wiener Musikleben zu reorganisieren, und sicher ist Furtwängler ein Musiker, an dessen Autorität niemand zweifelt. Aber schon, dass das kulturelle Leben Wiens reorganisiert werden muss, zeigt, dass der alte wunderbare Organismus schwer gefährdet ist. Denn man ruft keinen Arzt zu einem Gesunden. Kunst wie Kultur kann nicht gedeihen ohne Freiheit, und gerade die Kultur Wiens kann ihr Bestes nicht entfalten, wenn sie abgeschnitten ist von dem lebendigen Quell europäischer Zivilisation. In dem ungeheuren Kampfe, der heute unsere alte Erde erschüttert, wird auch das Schicksal dieser Kultur entschieden, und ich brauche nicht zu sagen, auf welcher Seite unsere glühendsten Wünsche sind.
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