Nikolai lag länger als zwei Monate. Aus Moskau wurde ein berühmter Arzt zur gemeinsamen Beratung mit den hiesigen Ärzten herbeigerufen; die ganze Stadt machte bei Warwara Petrowna Visiten. Sie verzieh allen. Als Nikolai im Frühjahr bereits vollständig wiederhergestellt war und ohne jeden Widerstand dem Vorschlage seiner Mutter, nach Italien zu reisen, beigestimmt hatte, da bat sie ihn, uns allen Abschiedsbesuche zu machen und dabei da, wo es nötig sei, sich nach Möglichkeit zu entschuldigen. Nikolai war mit großer Bereitwilligkeit einverstanden. Im Klub wurde bekannt, daß er mit Peter Pawlowitsch Gaganow in dessen Hause eine sehr zartfühlende Aussprache gehabt hatte, durch die dieser vollständig zufriedengestellt worden sei. Bei seinen Visitenfahrten war Nikolai sehr ernst und sogar etwas traurig. Alle empfingen ihn anscheinend mit großer Teilnahme; aber alle fühlten sich doch einigermaßen verlegen und freuten sich darüber, daß er nach Italien fuhr. Iwan Osipowitsch vergoß sogar Tränen, konnte sich aber aus einem gewissen Grunde nicht entschließen, ihn zu umarmen, auch nicht im Augenblicke des Abschiedes selbst. Allerdings verblieben einige von uns bei der Überzeugung, daß der Taugenichts sich einfach über uns alle lustig gemacht habe und die ganze Krankheit fingiert gewesen sei. Auch bei Liputin machte er einen Besuch.
»Sagen Sie,« fragte er ihn, »wie konnten Sie das, was ich über Ihren Verstand sagen würde, im voraus erraten und Ihrer Agafja eine Antwort darauf mitgeben?«
»Nun, ganz einfach,« erwiderte Liputin lachend: »auch ich halte Sie für einen klugen Menschen; daher konnte ich Ihre Antwort vorhersehen.«
»Immerhin ist es ein merkwürdiges Zusammentreffen. Aber erlauben Sie noch eine Frage: Sie haben mich also für einen vernünftigen Menschen gehalten, als Sie Agafja zu mir schickten, und nicht für einen Verrückten?«
»Für einen sehr klugen und vernünftigen; ich stellte mich nur, als hielte ich Sie für gestört ... Und Sie selbst haben ja auch meine Gedanken damals sofort erraten und mir durch Agafja ein Zeugnis über meine Klugheit zugeschickt.«
Manchmal nimmt sogar eine Kleinigkeit unsere Aufmerksamkeit ausschließlich und lange in Anspruch. Über Herrn Stawrogin werde ich noch recht viel zu sagen haben; aber jetzt bemerke ich der Kuriosität halber, daß von allen Eindrücken während der ganzen Zeit, die er in unserer Stadt verlebte, sich seinem Gedächtnisse am schärfsten die unscheinbare und beinah gemeine Gestalt Liputins einprägte, dieses geringen Gouvernementsbeamten, eifersüchtigen Ehemannes und groben Familiendespoten, argen Geizhalses und Wucherers, der die Überreste vom Mittagessen und die Lichtstümpfchen wegschloß und gleichzeitig ein fanatischer Anhänger Gott weiß welcher künftigen »sozialen Harmonie« war, sich nachts bis zur Berauschtheit bei den phantastischen Vorstellungen von einem künftigen phalanstère entzückte und an dessen nahe Verwirklichung in Rußland und in unserm Gouvernement so fest wie an seine eigene Existenz glaubte. Und das an einem Orte, wo er selbst sich von seinem zusammengescharrten Gelde ein Häuschen gekauft, wo er sich zum zweitenmal verheiratet und mit seiner Frau ein Sümmchen Geld bekommen hatte, und wo es vielleicht auf hundert Werst im Umkreise keinen Menschen gab (mit ihm selbst angefangen), der auch nur äußerlich einem zukünftigen Mitgliede der »universellen, die ganze Menschheit umfassenden sozialen Republik und Harmonie« ähnlich gewesen wäre.
»Weiß Gott, wie sich eine solche Sorte von Menschen herausbilden kann!« dachte Nikolai erstaunt, wenn er sich manchmal an diesen überraschenden Fourieristen erinnerte.
Unser Prinz reiste mehr als drei Jahre lang, so daß man ihn in unserer Stadt beinahe ganz vergaß. Uns Näherstehenden war durch Stepan Trofimowitsch bekannt, daß er ganz Europa bereist hatte, sogar in Ägypten gewesen war und Jerusalem besucht hatte; dann hatte er sich irgendwo einer wissenschaftlichen Expedition nach Island angeschlossen und war wirklich in Island gewesen. Es hieß auch, er habe einen Winter über an einer deutschen Universität Vorlesungen gehört. An seine Mutter schrieb er nur wenig, einmal im Halbjahr und sogar noch seltener; aber Warwara Petrowna nahm es ihm nicht übel und fühlte sich dadurch nicht gekränkt. Die Beziehungen zu ihrem Sohne nahm sie so, wie sie sich nun einmal herausgebildet hatten, ohne zu murren ergebungsvoll hin, sehnte sich unaufhörlich nach ihrem Nikolai und überließ sich in betreff seiner allerlei phantastischen Zukunftsträumereien. Weder von diesen Träumereien noch von ihren Klagen machte sie irgend jemandem Mitteilung. Sogar von Stepan Trofimowitsch zog sie sich anscheinend etwas zurück. Sie machte im stillen gewisse Pläne und wurde, wie es schien, noch geiziger als vorher, begann noch eifriger Geld zusammenzuscharren und über Stepan Trofimowitschs Verluste im Kartenspiel böse zu werden.
Endlich, im April des laufenden Jahres, empfing sie einen Brief aus Paris von der Generalin Praskowja Iwanowna Drosdowa, einer Jugendfreundin von ihr. Praskowja Iwanowna, mit der Warwara Petrowna während eines Zeitraumes von acht Jahren weder zusammengekommen war noch korrespondiert hatte, teilte ihr in diesem Briefe mit, daß Nikolai Wsewolodowitsch bei ihnen viel im Hause verkehre, mit Lisa (ihrer einzigen Tochter) Freundschaft geschlossen habe und die Familie im Sommer nach der Schweiz, nach Vernex-Montreux, zu begleiten vorhabe, trotzdem er in der Familie des Grafen K*** (einer in Petersburg sehr einflußreichen Persönlichkeit), der sich jetzt in Paris aufhalte, wie ein leiblicher Sohn Aufnahme gefunden habe, so daß er beinahe ganz bei dem Grafen lebe. Der Brief war kurz und ließ seinen Zweck klar erkennen, obgleich er nur die oben angeführten Tatsachen, aber keine Schlußfolgerungen aus ihnen enthielt. Warwara Petrowna überlegte nicht lange; in einem Augenblick hatte sie ihren Entschluß gefaßt, machte sich fertig, nahm ihre Pflegetochter Dascha (Schatows Schwester) mit und fuhr Mitte April nach Paris und dann nach der Schweiz. Im Juli kehrte sie allein zurück, indem sie Dascha bei Drosdows gelassen hatte; Drosdows selbst hatten, nach einer Nachricht, die sie mitbrachte, versprochen, Ende August zu uns zu kommen.
Die Drosdows waren ebenfalls eine Gutsbesitzerfamilie in unserem Gouvernement; aber der Dienst des Generals Iwan Iwanowitsch (der mit Warwara Petrowna befreundet und ein Kamerad ihres Mannes gewesen war) hatte sie beständig gehindert, jemals ihr prächtiges Gut zu besuchen. Nach dem im vorigen Jahre erfolgten Tode des Generals hatte die untröstliche Praskowja Iwanowna sich mit ihrer Tochter ins Ausland begeben, unter anderm auch in der Absicht, eine Traubenkur zu gebrauchen, die sie in der zweiten Hälfte des Sommers in Vernex-Montreux vorzunehmen gedachte. Nach ihrer Rückkehr in das Vaterland hatte sie vor, sich in unserm Gouvernement dauernd niederzulassen. In der Stadt hatte sie ein großes Haus, das schon viele Jahre leer stand und dessen Fenster mit Brettern verschlagen waren. Sie waren sehr reiche Leute. Praskowja Iwanowna, in erster Ehe Frau Tuschina, war, wie ihre Pensionsfreundin Warwara Petrowna, ebenfalls die Tochter eines Branntweinpächters der früheren Zeit und hatte ebenfalls bei ihrer Verheiratung eine große Mitgift erhalten. Der Rittmeister a.D. Tuschin war selbst bemittelt gewesen und hatte einige Fähigkeiten besessen. Bei seinem Tode vermachte er seiner siebenjährigen einzigen Tochter Lisa ein hübsches Kapital. Jetzt, wo Lisaweta Nikolajewna schon ungefähr zweiundzwanzig Jahre alt war, konnte man ihr Vermögen kühn auf zweihunderttausend Rubel eigenen Geldes schätzen, ungerechnet das Vermögen, das ihr seiner Zeit als Erbschaft von ihrer Mutter zufallen mußte, die in ihrer zweiten Ehe keine Kinder gehabt hatte. Warwara Petrowna war mit dem Erfolge ihrer Reise anscheinend sehr zufrieden. Ihrer Meinung nach hatte sie sich mit Praskowja Iwanowna bereits in befriedigender Weise geeinigt, und sie teilte gleich nach ihrer Ankunft alles Stepan Trofimowitsch mit; sie war ihm gegenüber sogar sehr offen, was schon seit langer Zeit bei ihr nicht der Fall gewesen war.
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