»Wäre es aber nicht besser, es nicht laut zu lesen«, stammelte der Fürst sehr verlegen; »ich würde es lieber für mich allein lesen ... später ...«
»Dann lies du es lieber vor, sofort, laut! Laut!« wandte sich Lisaweta Prokofjewna an Kolja und riß dem Fürsten die Zeitschrift, die er noch kaum berührt hatte, ungeduldig aus den Händen. »Lies es allen laut vor, damit es jeder hört.«
Lisaweta Prokofjewna war eine heißblütige, leidenschaftliche Dame, so daß sie manchmal plötzlich, ohne lange zu überlegen, alle Anker lichtete und, unbekümmert um das Wetter, aufs hohe Meer hinausfuhr. Iwan Fjodorowitsch bewegte sich unruhig hin und her. Aber während alle im ersten Augenblick unwillkürlich starr waren und verwundert warteten, was da kommen werde, hatte Kolja die Zeitschrift auseinandergeschlagen und begann nun, laut von der Stelle an zu lesen, die ihm der hinzuspringende Lebedjew zeigte:
»Proletarier und Edelinge. Eine Episode aus dem täglichen und alltäglichen Räuberwesen. Fortschritt! Reform! Gerechtigkeit!
Seltsame Dinge kommen in unserem sogenannten heiligen Rußland vor, im Zeitalter der Reformen und der unternehmungslustigen Aktiengesellschaften, in dem Zeitalter des Nationalgefühls und der jährlichen Ausfuhr Hunderter von Millionen ins Ausland, in dem Zeitalter der Beschützung des Handwerks und der Lähmung der arbeitenden Hände und so weiter und so weiter; man kann nicht alles aufzählen, meine Herren, daher kommen wir sofort zur Sache. Es hat sich eine sonderbare Geschichte mit einem der edlen Sprößlinge unseres ehemaligen Gutsherrnstandes (de profundis!) zugetragen, mit einem jener Sprößlinge, deren Großväter ihr Vermögen beim Roulette verspielten, und deren Väter sich genötigt sahen, als Fähnriche und Leutnants zu dienen, und gewöhnlich im Anklagezustand wegen irgendeines harmlosen Defizits bei den Staatsgeldern starben, und die dann selbst, wie der Held unserer Erzählung, entweder als Idioten aufwachsen oder sogar in Kriminalprozesse hineingeraten (bei denen sie übrigens zum Zweck ihrer Besserung und zur Erbauung anderer von den Geschworenen freigesprochen zu werden pflegen) oder endlich zu guter Letzt eine jener Geschichten loslassen, die das Publikum in Erstaunen versetzen und unserem an sich schon hinreichend schmählichen Zeitalter zur Schande gereichen. Unser junger Edeling kehrte vor einem halben Jahr, mit ausländischen Gamaschen angetan und in einem ungefütterten Mäntelchen vor Kälte zitternd, im Winter nach Rußland aus der Schweiz zurück, wo er eine Kur gegen seine Idiotie durchgemacht hatte (sic!). Man muß bekennen, daß er Glück hatte; denn (wir reden noch gar nicht von seiner interessanten Krankheit, von der er sich in der Schweiz kurieren ließ; aber ist denn Idiotie überhaupt heilbar? Stellen Sie sich das nur einmal vor?!!) er konnte an seiner Person die Wahrheit des russischen Sprichworts beweisen: ›Eine gewisse Sorte von Menschen hat immer Glück!‹ Urteilen Sie selbst: nach dem Tod seines Vaters, der, wie es heißt, als Leutnant in der Untersuchungshaft gestorben war, weil er im Kartenspiel die ganzen Kompaniegelder verloren oder vielleicht auch einem Untergebenen eine übermäßige Portion Rutenhiebe hatte verabreichen lassen (vergessen Sie nicht, meine Herren, das war in der alten Zeit), wurde unser Baron, der als Säugling zurückgeblieben war, aus Barmherzigkeit von einem sehr reichen russischen Gutsbesitzer aufgezogen. Dieser russische Gutsbesitzer (nennen wir ihn P.!) besaß in jener alten goldenen Zeit viertausend leibeigene Seelen (leibeigene Seelen! verstehen Sie diesen Ausdruck, meine Herren? Ich verstehe ihn nicht. Man muß erst das Konversationslexikon befragen; ›nicht lang ist's her, und doch ist's kaum zu glauben‹) und war offenbar einer jener russischen Nichtstuer und Tagediebe, die ihr müßiges Leben im Ausland verbrachten, im Sommer in den Badeorten und im Winter im Pariser Château des fleurs, wo sie seinerzeit enorme Summen zurückließen. Man kann mit Bestimmtheit sagen, daß mindestens ein Drittel des gesamten in der früheren Zeit der Leibeigenschaft gezahlten Pachtzinses in die Tasche des Besitzers des Pariser Château des fleurs floß (war das ein glücklicher Mensch!). Wie dem auch gewesen sein mag, jedenfalls ließ der sorglose P. dem verwaisten jungen Herrn eine fürstliche Erziehung zuteil werden und hielt ihm Erzieher und Gouvernanten (ohne Zweifel hübsche), die er bei Gelegenheit selbst aus Paris mitbrachte. Aber der junge Edeling, der Letzte seines Geschlechtes, war ein Idiot. Die Gouvernanten aus dem Château des fleurs konnten ihm nicht helfen, und bis zum zwanzigsten Lebensjahr vermochte ihr Zögling keine einzige Sprache zu sprechen, nicht einmal die russische. Letzteres ist übrigens verzeihlich. Endlich bildete sich in P.s russischem Gutsherrnkopf die Vorstellung, man könne einem Idioten in der Schweiz Verstand beibringen lassen, übrigens eine von seinem Standpunkt aus logische Vorstellung: so ein Müßiggänger und Proprietär konnte sich sehr wohl denken, daß man für Geld sogar Verstand auf dem Markt kaufen könne, ganz besonders in der Schweiz. Fünf Jahre lang befand sich nun der edle Sprößling zur Kur bei einem bekannten Professor in der Schweiz; diese Kur kostete viele tausend Rubel: der Idiot wurde dadurch natürlich nicht klug, aber doch, wie man sagt, einem Menschen wenigstens so halbwegs ähnlich. Da stirbt P. unerwartet früh. Ein Testament war natürlich nicht vorhanden; die Vermögensverhältnisse befanden sich, wie das gewöhnlich der Fall ist, in arger Unordnung; es stellte sich ein Haufe gieriger Erben ein, die sich natürlich nicht im geringsten mehr um diesen letzten Sprößling seines Geschlechtes kümmerten, den der Verstorbene aus Barmherzigkeit in der Schweiz hatte von der Idiotie kurieren lassen wollen. Der junge Edeling, Idiot wie er war, versuchte doch, seinen Professor zu betrügen, und ließ sich, wie man erzählt, von ihm zwei Jahre lang gratis behandeln, indem er ihm den Tod seines Wohltäters verheimlichte. Aber der Professor war selbst ein schlauer Patron; das Ausbleiben der Zahlungen und ganz besonders der starke Appetit seines fünfundzwanzigjährigen faulenzenden Patienten machten ihn doch schließlich stutzig; er gab ihm ein Paar alte Gamaschen von sich zum Anziehen, schenkte ihm einen abgetragenen Mantel von sich und spedierte ihn aus Barmherzigkeit dritter Klasse nach Rußland; so war die Schweiz ihn losgeworden. Es könnte nun scheinen, als habe Fortuna unserem Helden den Rücken gewendet. Das war jedoch nicht der Fall: Fortuna, die ganze Gouvernements Hungers sterben läßt, schüttete auf einmal alle ihre Gaben über diesen Aristokraten aus, wie in der Krylowschen Fabel die Wolke über das ausgetrocknete Feld hinwegzieht und ihr Wasser in den Ozean hinabschüttet. Fast in demselben Augenblick, als er aus der Schweiz in Petersburg eintraf, starb in Moskau ein Verwandter seiner Mutter (die natürlich aus dem Kaufmannsstand stammte), ein alter, kinderloser, allein dastehender, langbärtiger Kaufmann und Sektierer, und hinterließ eine Erbschaft von mehreren Millionen in barem Geld, die (ja, das wäre etwas für uns beide, mich und Sie, lieber Leser!) in ihrem ganzen Betrag unanfechtbar unserem jungen Edeling zufiel, der sich in der Schweiz hatte von der Idiotie kurieren lassen! Na, nun klang die Musik natürlich anders. Um unseren Baron in Gamaschen, der schon angefangen hatte, einer bekannten Schönheit der Halbwelt den Hof zu machen, sammelte sich auf einmal ein ganzer Schwarm von Freunden; es fanden sich auch Verwandte ein und vor allem ganze Scharen vornehmer Mädchen, die danach schmachteten, mit ihm in den Stand der heiligen Ehe zu treten. Und was konnte man sich auch Besseres denken: ein Aristokrat, ein Millionär, ein Idiot, also alle Vorzüge vereint; einen solchen Mann kann man nicht einmal mit der Laterne finden oder auf Bestellung geliefert bekommen ...!«
Читать дальше