»Ich glaube, wir besitzen überhaupt keinen Puschkin.«
»Seit wer weiß wie langer Zeit liegen bei uns zwei ramponierte Bände herum«, fügte Alexandra hinzu.
»Dann schickt sofort jemanden nach der Stadt, um ein Exemplar zu kaufen, Fjodor oder Alexej, gleich mit dem nächsten Zug, am besten Alexej. Aglaja, komm einmal her! Gib mir einen Kuß; du hast sehr schön deklamiert; aber wenn du es ernst gemeint hast«, fügte sie beinah flüsternd hinzu, »so tust du mir leid; und wenn du ihn hast verspotten wollen, dann billige ich dein Benehmen nicht; dann wäre es jedenfalls besser gewesen, die Deklamation ganz zu unterlassen. Verstanden? Geh, mein Kind, ich werde noch mit dir darüber reden; aber wir haben hier schon zu lange gesessen.«
Unterdessen hatte der Fürst den General Iwan Fjodorowitsch begrüßt, und der General hatte ihm Jewgeni Pawlowitsch Radomski vorgestellt.
»Ich habe ihn in Petersburg unterwegs getroffen, und wir sind beide eben erst mit dem Zug angekommen. Er hörte, daß ich hierher ginge, und daß auch alle meine Angehörigen ...«
»Ich hörte, daß auch Sie hier in Pawlowsk seien«, unterbrach ihn Jewgeni Pawlowitsch; »und da ich mir schon längst fest vorgenommen hatte, nicht nur Ihre Bekanntschaft zu suchen, sondern auch nach Ihrer Freundschaft zu streben, so wollte ich keine Zeit verlieren. Sie sind nicht wohl? Ich habe es eben erst gehört ...«
»Ich bin ganz gesund und freue mich sehr, Sie kennenzulernen; Fürst Schtsch. hat mir viel von Ihnen erzählt, und ich habe sogar viel mit ihm von Ihnen gesprochen«, antwortete Ljow Nikolajewitsch, indem er ihm die Hand reichte.
Sie wechselten einige höfliche Worte, drückten einander die Hände und blickten sich gegenseitig prüfend in die Augen. Es entspann sich sofort ein gemeinsames Gespräch. Der Fürst bemerkte (und er bemerkte jetzt alles rasch und eifrig, vielleicht sogar Dinge, die gar nicht existierten), daß Jewgeni Pawlowitschs Zivilanzug ein allgemeines und ungewöhnlich starkes Aufsehen erregte, dergestalt, daß sogar alles, was die Gesellschaft bisher interessiert hatte, in den Hintergrund trat und vergessen wurde. Es machte den Eindruck, als lege man diesem Kostümwechsel eine besondere Wichtigkeit bei. Adelaida und Alexandra fragten den jungen Mann verwundert, was das zu bedeuten habe; Fürst Schtsch., sein Verwandter, redete darüber in großer Unruhe, der General sogar beinah in Aufregung. Nur Aglaja musterte den neuen Zivilisten einen Augenblick zwar neugierig, aber doch mit vollkommener Seelenruhe, als wolle sie lediglich durch Vergleichung feststellen, ob ihm der Militär-oder der Zivilanzug besser stehe, wandte sich aber dann gleich wieder von ihm ab und sah ihn nachher nicht weiter an. Auch Lisaweta Prokofjewna hatte keine Lust, Fragen an ihn zu richten, obgleich sie sich vielleicht ebenfalls einigermaßen beunruhigte. Es schien dem Fürsten, daß Jewgeni Pawlowitsch bei ihr in Ungnade stand.
»Ich war ganz verwundert, höchst erstaunt!« erwiderte Iwan Fjodorowitsch auf alle Fragen. »Ich traute meinen Augen nicht, als ich ihm vorhin in Petersburg begegnete. Und warum so plötzlich? Das ist mir ein reines Rätsel. Er selbst proklamiert es immer als sei nen Grundsatz, man müsse sich stets vor Heftigkeit hüten.«
Bei dem sich nunmehr entwickelnden Gespräch ergab sich, daß Jewgeni Pawlowitsch sich seinen Bekannten gegenüber schon lange dahin geäußert hatte, daß er den Abschied zu nehmen gedenke; aber er hatte jedesmal in so wenig ernstem Ton darüber gesprochen, daß es unmöglich war, ihm zu glauben. Er sprach nämlich auch von ernsthaften Dingen immer mit so scherzhafter Miene, daß man gar nicht aus ihm klug werden konnte, besonders wenn er es selbst nicht wünschte.
»Ich bin ja nur zeitweilig, auf einige Monate, höchstens auf ein Jahr ausgetreten«, sagte Radomski lachend.
»Aber soweit ich wenigstens Ihre Verhältnisse kenne, liegt doch gar kein Grund dazu vor«, ereiferte sich der General immer noch.
»Muß ich denn nicht auch einmal meine Güter besichtigen? Sie haben es mir ja selbst geraten. Und außerdem möchte ich auch ins Ausland reisen ...«
Das Gespräch wendete sich übrigens bald anderen Gegenständen zu; aber die eigenartige und immer noch fortdauernde Unruhe überschritt doch nach der Meinung des alles beobachtenden Fürsten die Grenzen des Gewöhnlichen, und es mußte da wohl etwas Besonderes dahinterstecken.
»Also der ›arme Ritter‹ ist auch wieder aufs Tapet gebracht?« fragte Jewgeni Pawlowitsch, indem er an Aglaja herantrat.
Zur Verwunderung des Fürsten blickte diese ihn erstaunt und fragend an, wie wenn sie ihm zu verstehen geben wollte, daß zwischen ihnen beiden von dem »armen Ritter« nicht die Rede gewesen sein könne, und daß sie die Frage überhaupt nicht verstehe.
»Aber es ist zu spät, es ist viel zu spät jetzt, um nach der Stadt zu schicken und einen Puschkin holen zu lassen, viel zu spät!« stritt Kolja mit Lisaweta Prokofjewna energisch und hitzig. »Zum dreitausendstenmal sage ich Ihnen: es ist zu spät!«
»Ja, es dürfte vielleicht zu spät dazu sein, um jetzt noch nach der Stadt zu schicken«, mischte sich unvermutet Jewgeni Pawlowitsch ein, der möglichst schnell von Aglaja loszukommen suchte. »Ich glaube, die Läden werden in Petersburg schon geschlossen sein; es ist ja bald neun Uhr«, sagte er, die Uhr herausziehend.
»Sind wir solange ohne einen Puschkin ausgekommen, dann können wir auch noch bis morgen warten«, meinte Adelaida.
»Und für vornehme Leute ist es nicht einmal schicklich, sich für die Literatur besonders zu interessieren«, fügte Kolja hinzu. »Fragen Sie nur Jewgeni Pawlowitsch! Weit passender interessieren sich solche Leute für einen gelben char à banc mit roten Rädern.«
»Das haben Sie gewiß wieder aus einem Buch, Kolja!« bemerkte Adelaida.
»Alles, was er sagt, hat er aus Büchern«, stimmte Jewgeni Pawlowitsch bei. »Er reproduziert ganze Sätze aus den kritischen Revuen. Ich habe schon lange das Vergnügen, Nikolai Ardalionowitschs Redeweise zu kennen; aber diesmal hat er nun doch nicht aus einem Buch zitiert. Nikolai Ardalionowitsch macht eine deutliche Anspielung auf meinen gelben char à banc mit roten Rädern. Nur habe ich diesen Wagen bereits vertauscht, so daß Sie mit Ihrer Bemerkung zu spät kommen.«
Der Fürst hörte das, was Radomski sagte, mit an. Er hatte den Eindruck, daß dessen Benehmen recht nett, bescheiden und heiter sei; ganz besonders gefiel es ihm, daß derselbe mit Kolja, der ihn fortwährend neckte, auf völlig gleichem Fuß verkehrte und mit ihm durchaus freundschaftlich sprach.
»Was ist das?« Mit dieser Frage wandte sich Lisaweta Prokofjewna an Wjera, die Tochter Lebedjews, die mit einigen Büchern in den Händen vor ihr stand. Die Bücher hatten ein großes Format und waren vorzüglich gebunden und fast neu.
»Ein Puschkin«, antwortete Wjera. »Unser Puschkin. Papa hat mir befohlen, ihn Ihnen zu bringen.«
»Wie ist das gemeint? Was stellt das vor?« fragte Lisaweta Prokofjewna erstaunt.
»Nicht als Geschenk, nicht als Geschenk! Das würde ich nicht wagen!« rief Lebedjew, der hinter der Schulter seiner Tochter hervorsprang. »Ich überlasse Ihnen die Bücher zu meinem Selbstkostenpreis. Dies ist unser eigener Familien-Puschkin, die Annenkowsche Ausgabe, die jetzt nirgends mehr aufzutreiben ist – zu meinem Selbstkostenpreis. Ich werde ihn Ihnen mit Ehrerbietung hinbringen, in dem Wunsch, ihn Ihnen zu verkaufen und dadurch die edle Ungeduld des höchst edlen literarischen Interesses Euer Exzellenz zu befriedigen.«
»Ah, du willst ihn verkaufen! Nun, dann danke ich schön. Du sollst nicht um dein Geld kommen; habe keine Angst; schneide nur keine Gesichter, Väterchen, sei so gut! Ich habe von dir gehört; du sollst ja ein sehr belesener Mann sein; wir plaudern schon noch einmal miteinander. Wie ist's? Willst du die Bücher selbst zu mir bringen?«
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