Unmittelbar vor meiner Geburt fingen auch die gesundheitlichen Probleme meines Vaters an, die unser Familiendasein noch über Jahrzehnte belasten sollten. Nach meiner Geburt legte uns der Storch noch sechs weitere Kinder ins Nest, und wir wechselten drei Mal in fünf Jahren die Wohnung. Da kam meinem Vater die glorreiche Idee, dem Grailtal mit seinen sturen und eigensinnigen Weibern den Rücken zu kehren. Wir übersiedelten ins gelobte Inntal. Und das, obwohl genau zu diesem Zeitpunkt Vaters kultureller Wert für meinen Geburtsort am höchsten war, man uns sogar ein Haus schenken wollte, nur damit er der Gemeinde erhalten bliebe. Stur und eigensinnig nenne ich die Weiber deshalb, weil sie mit ihrem herrschsüchtigen und zickigen Gehabe den jungen und zugezogenen Schuldirektor des Öfteren bis zur Weißglut geärgert und gestresst hatten, und damit wohl auch zu seiner, uns später so belastenden Krankheit, beigetragen hatten.
Obwohl mein Erzeuger zu diesem Zeitpunkt im Grailtal sozusagen in den Himmel gehoben wurde, kehrten wir meinem Geburtsort den Rücken zu und zogen in das Elternhaus meines Vaters in Reutling ein. Das heißt, weg von meinem geliebten Großvater mütterlicherseits, zu der von uns Kindern nach Kräften gemiedenen Mutter meines Vaters. Nicht nur ich, sondern auch meine jüngeren Brüder erinnern sich noch heute nur mit Zorn an die wohl arbeitsscheueste, egoistischste und selbstsüchtigste Frau, die ich bis heute kennen gelernt habe. Ihre Kochkünste sollten uns Kindern kulinarische Erlebnisse voller Pein und Schrecken bereiten. Wenn sie für uns kochte, wagte sie es doch tatsächlich, uns mit Abfällen aus ihrem Haushalt zu versorgen. Dazu gehörte auch der Kragen des Sonntagshuhns, um den wir uns dann auch noch rauften. Ich bin mir nicht sicher, ob dem normal Bürger bewusst ist, wie viel Fleisch an so einem Hühnerkragen … NICHT dran ist. Wenn mein Bruder Werner mal zu viel Bier getrunken hat, heult er heute noch und meint:
»Ich würde ihr eigenhändig den Kragen, sprich Hals umdrehen, wäre sie noch unter den Lebenden.«
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»Hm ja, apropos Essen, ob ich jetzt schon einen der sieben Müsli Riegel genießen sollte, den mein Notfallkoffer beinhaltet?« Ich hatte im Dingi bei solchen Überseefahrten immer eine Notausrüstung festgezurrt. Mein winziges Schlauchboot erklomm gerade einen Wellenberg, und da sah ich es plötzlich. Es war ein weißer Lichtfleck, der sich im starken Seegang mit den Wellen hob und senkte. Ich versuchte, das schwache Licht nicht aus den Augen zu verlieren, während das kleine Dingi in ein Wellental hinunter sank. War das ein Fischerboot, das sich hier durch den Sturm kämpfte? Egal, was auch immer, Hauptsache ein Schiff. „Die werden mich nicht sehen, wie sollten sie auch.“ Wie zur Bestätigung verschwand ich mitsamt dem Dingi wieder in einer Wasserschlucht. Es gelang mir, auf dem Rücken liegend, trotz des heftigen Seegangs den Notfallkoffer zu öffnen. Vorsichtig versuche ich, ihn waagrecht zu halten, um ja nicht den kostbaren Inhalt an das Meer zu verlieren. Ich hatte den Koffer mit einer Leine an meiner Schwimmweste befestigt. Jetzt entnahm ich ihm eine der Rettungsraketen und verschloss ihn sofort wieder, bevor er sich mit Wasser füllen konnte. Dann zerbiss ich die Plastikfolie, welche die Rakete vor Feuchtigkeit schützen sollte.
»So … mit einer Hand halten, mit der anderen am Seil ziehen. Verdammt, verdammt, Scheiße!«
Wir hatten das zwar in der Segelschule und vor meiner ersten Atlantiküberquerung dutzende Male geübt, mir war richtig langweilig dabei geworden.
» Was soll das, ist doch Kinderkram«, hatte ich damal gedacht.
Und jetzt hatte ich mich, wohl vor Aufregung, beinahe selbst erschossen und samt Schwimmweste versenkt. Soviel zu Theorie und Praxis.
»Tief durchatmen, tief atmen «, redete ich mir selbst gut zu. Ich hatte nicht so viele Raketen und war noch zu lebenshungrig, um mich selbst zu erschießen. Also versuchte ich, mich zu konzentrieren, diesmal mit Erfolg. Die nächste Rakete stieg zischend und heulend gegen den Himmel.
» Na ja, zumindest sollte man bemerken, dass hier noch ein Mensch lebt. Falls die überhaupt in Sichtweite sind.« Ich verschwand mitsamt dem Schlauchboot schon wieder in einem Wellental.
„Verdammt noch mal!“, entfuhr es mir. Als ich nach einer Ewigkeit wieder hoch kam, war das schwache Licht ganz verschwunden. Meine Euphorie schwand augenblicklich und die Stimmung fiel ins Bodenlose. So bodenlos, wie die See unter mir. Es war unschwer, sich klarzumachen, wie meine Situation in Wirklichkeit ausschaute. In dieser beängstigenden Dunkelheit konnten die mich sogar überfahren, ohne etwas von mir zu bemerken. Die Wellen waren inzwischen so unvorstellbar riesig und brachen sich zudem ständig über mir. Es schien mir deshalb zu riskant, den Koffer noch einmal zu öffnen. Womöglich würde ich noch den ganzen Inhalt in der nächsten Minute ans Meer verlieren, sowohl Notfallraketen, als auch Müsli Riegel. Ich musste wohl noch länger durchhalten und zuerst den Sturm abwettern. Ich verwarf daher den Gedanken an weitere Signalraketen sofort wieder. Und jetzt schon meine Energiereserven anzugreifen wäre sicher gedankenlose Verschwendung gewesen. Auch die zwei Dosen Energy Drink wollte ich so lange wie möglich aufbewahren. Vielleicht verliehen sie ja wirklich Flügel, sollte keine andere Hilfe auftauchen. Träumen darf man ja. Hätte ich bloß als Kind schon so eine Dose gehabt.
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Ich wollte schon damals in meinen Tagträumen immer zur Kirchendecke hoch fliegen und Wunder nicht nur Jesus überlassen. An einen Ort fliegen, der weit entfernt wäre von meiner verrückten Kindheit. Einen Ort, an dem es nur mein wahres, kindliches Selbst gäbe, wo mein inneres Licht herausfinden konnte, wer ich wirklich war. Damals war ich von diesem Traum sehr weit entfernt, und im Moment wohl auch.
Die täglichen Kirchenbesuche, zu denen wir Kinder gezwungen wurden, werden uns wohl diese Institution für immer vermiest haben. Meine Oma sang, wie so viele Verwandte auch, fast täglich im Kirchenchor. Ein Grund mehr, davon zu fliegen. Wir mussten sie jedes Mal begleiten, in die Kirche, nicht beim Singen.
Zwei meiner Brüder waren ja auch noch zu Ministranten ausgebildet worden. Das war damals eine sehr wichtige Funktion für Burschen in diesem Alter und von einer gewissen Bedeutsamkeit.
An mir ging dieser Kelch leider vorüber. Mädchen wurden damals in dieser patriarchalischen Welt noch nicht geduldet, auch wenn sie noch so burschikos waren wie ich. Ich schmollte, wollte ich doch lieber in der Sakristei mit den Burschen albern, als brav mit meinen Artgenossinnen in der Kirchenbank sitzen.
So nebenbei wurden mir durch den Umzug nach Reutling, und dem damit verbundenen Kulturschock, gleich einige weitere Tiefschläge versetzt. Dazu zählten neben dem sprachlichen Schock eines für Reutlinger fast unverständlichen Grailtaler Dialekts, der kulturelle, kulinarische und auch finanzielle Schock. Wir waren aufgrund der Übersiedelung und dem Bau eines Hauses wirklich arm wie Kirchenmäuse geworden. Vom gesicherten Nest waren wir sozusagen in die Slums abgerutscht. Wie auch die gesamte Hausmauer, die während der Umbauten am großelterlichen Hexenhaus, sprich der umgebauten Waschküche des Bauernhofes meiner Urgroßeltern, während des Kartoffelsiedens an meiner Mutter und mir vorbei in das Kellerloch rutschte bzw. stürzte.
Um Geld und Zeit zu sparen hatte mein Onkel, als verantwortlicher Baumeister, die Wand des alten Hauses einfach nicht entsprechend abgestützt und gesichert. Heute würden wir mit dieser Aktion sicher auf der Titelseite einer Tageszeitung stehen. Und das ist ja inzwischen gar nicht mehr so einfach – zumindest nicht mit etwas Positivem. Damit hatte ich schon wieder eine ›Beinahe-Katastrophe‹ überlebt. Während wir Kinder – ich wiederhole Kinder – mit den Aufräumungsarbeiten beschäftigt waren, musste mein Vater mit unserer Großmutter, wie des Öfteren, wenn Arbeit angesagt war, Karten spielen. Meine Mutter hat, so glaube ich, badewannenweise Tränen wegen dieser greisen Tyrannin vergossen. Sehr lange war deshalb das Grailtal für mich die idyllische Heimat, die man mir genommen hatte. Meine Grailtaler Großmutter wusste diese Vorliebe von mir auch bei jedem meiner Besuche ganz gewaltig zu unterstützen. Mein Vater hatte es gewagt, ihr die Tochter, damit die Familie und auch die Enkel zu nehmen. Jetzt musste ich herhalten. Um Jo und Werner war sie ja nie sehr bemüht, die waren zu wild und rüpelhaft, aber ich hatte es ihr als Mädchen unter einer Horde von Wilden angetan. Hier gab ich mir ausnahmsweise Mühe und hielt die Hexe in mir versteckt. ›Verräterin‹ wurde ich dafür von meinen Brüdern genannt.
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