°
»Grrr«, Eine Welle hatte mich kurzzeitig mit unbarmherziger Kraft auf den Boden des Dingis gedrückt. Das wurde ja immer lustiger. Ich spuckte prustend Salzwasser aus, das ich im Mund hatte. Einen Teil davon hatte ich unfreiwillig verschluckt, den Rest hustete ich aus meinen Lungen heraus. Wenn das so weiter ging, musste ich mir über meine letzte Liegestätte keine Gedanken machen. Nach meiner Berechnung trieb ich jetzt an die 30 Stunden im Meer und der Sturm hatte nur unmerklich nachgelassen.
°
Ich hasste Beerdigungen und hatte meiner Familie gegenüber schon sehr früh den Wunsch geäußert, dass ich auf keinem Fall in so einem Loch im Boden begraben werden wollte.
Ich hatte einmal zufällig in den Bergen eine Mulde entdeckt, in der eine braune Masse von Würmern brodelte – wie in einem vulkanischen Schlammloch in Neuseeland. Aus dem Würmermeer schaute noch der Kopf einer wohl im vergangenen Winter abgestürzten Gämse heraus. »Brrr«, denke ich heute noch bei dem grässlichen Anblick und dem bestialischen Gestank. Ich wollte nicht von Würmern aufgefressen werden, da schon lieber von Haien. Na ja, d e r Wunsch konnte schneller in Erfüllung gehen, als mir lieb war.
»Wenn mich niemand hier draußen findet, dann besteht diese Gefahr wohl ohnehin nicht mehr«, dachte ich bei mir, »so erledigen sich manche Wünsche von selbst.«
Ich wollte einmal verbrannt werden und hatte bereits meine Brüder gebeten, meine Asche vom Gipfel eines meiner geliebten Berge in den Wind zu streuen. Ich dachte da an den wunderschönen Hochfeiler, der, obwohl um die 3.500 Meter hoch, verhältnismäßig leicht von Südtirol aus bezwingbar ist.
Noch wollte ich aber nicht aufgeben. So schnell sollten mich die Haie nicht bekommen. Ich war schon immer gut im Durchhalten gewesen. Und das nicht nur bei Abenteuern, nein, besonders auch beim Kampf um Männer.
°
So wie bei Christian. Gott, hatte mich der Blitz getroffen.
»Chriiiiiiiiiiiiistiiiiiiiaaaaaaaan !«, schrie ich laut über die Wellenkämme.
Chris war aus dem allerfeinsten Haus unseres Ortes. Sohn aus der Nobelvilla in bester Lage und was so dazugehört. Der Stiefvater war ein angesehener Direktor einer der größten Firmen im Osten Österreichs. Chris Mutter hatte ein bewegtes Leben hinter sich und Chris und seine zwei Schwestern waren von verschiedenen Männern.
Jo, mein Bruder, durfte seinen Schwestern Annette und Maria Klavierunterricht geben. Deren Mutter wollte mit dem Geld für die Stunden auch etwas zu den Studiengebühren meines Bruders beitragen.
Ich beneidete meinen Bruder darum und war wieder einmal sehr frustriert. Auch die Tatsache, dass Jo nie an Henco, einem riesigen, scharfen Schäferhund, vorbeikam, ohne dass ihn die Hausherrin an der Einfahrt abholen musste, änderte nichts daran. Ich hingegen musste nur kurz schreien: „Aus Henco, verschwinde!“, und der Hund zog den Schwanz ein, und weg war er. Jedenfalls war der Hausherr verärgert, weil der Hund ja ein Wachhund sein sollte. Nur die Tatsache, dass ich die einzige Person im Bekanntenkreis war, die mit Henco auf diese Weise umzugehen wusste, rettete diesen wahrscheinlich vor dem Hundefriedhof.
Diesbezüglich hatte ich immer schon Begabungen, die mir zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht weiterhalfen.
Jo jedenfalls war in der Familie aufgenommen und durfte den Kids das Klavierspielen beibringen. Dabei hätte ich das doch viel besser gekonnt. Ich stand auf Chris, aber der spielte mit mir, und nicht das Piano.
Als ich Chris das erste Mal sah, durchfuhr es mich wie ein Blitz. Ich durfte kurzfristig Jo ersetzten, der sich die Grippe geholt hatte, und urplötzlich hatte auch Chris Interesse am Klavierunterricht. Er war für mich wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Chris hatte schwarze, lockige Haare und die wunderschönsten grünen Augen, die ich in meinem bisherigen Leben gesehen hatte. Darüber hinaus hatte er ein Grübchen am Kinn und eine Nase, wie von einem griechischen Bildhauer. Sie gab seinem Gesicht den Gesamteindruck eines männlichen Engels. Ich vergaß für einen Moment das Atmen und wäre beinahe kollabiert. Dieser Bursche hatte das bezauberndste Lächeln der Welt und schaute während der ganzen Stunde mehr auf mich als auf die Klaviertasten. Mein Herz fing an zu rasen und meine Hände zitterten so sehr, dass ich ihm kaum etwas Vernünftiges auf den Tasten vorspielen konnte. Mein Mund war so trocken wie eine Sanddüne in der Sahara. »Mein Gott, ist dieser Adonis schön«, durchfuhr es mich.
Ich fühlte, wie mir gleichzeitig heiß und kalt wurde, und noch immer war ich wie gelähmt. Dabei sollte ich ihm doch die Mondschein Sonate von Beethoven beibringen, zumindest den ersten Satz davon. Ich konnte meine Blicke nicht von ihm abwenden. „Oh, Gott, jetzt kommt er auch noch näher.“ Chris war auf dem ohnehin kleinen Klaviersessel noch näher an mich herangerückt, um die tieferen Tasten besser zu erreichen. So nahe, dass seine Oberschenkel und seine Hüfte meine entsprechenden Körperteile berührten. Dabei schaute er mir immer wieder tief in die Augen und fragte lasziv. „Und, ist das so gefühlvoll genug?“ Gleichzeitig bewegte er seine wunderschönen langen, schmalen Finger anmutig über die Tastatur. In meinem Kopf explodierte dabei ein Feuerwerk der Gefühle.
»Mit diesem Mann will ich bis zum Ende meiner Tage glücklich sein.«
Der Blick in seine Augen und die Berührung seines Körpers auf dem engen Klaviersessel gingen mir durch und durch. Ich fühlte seine Wärme und der Geruch seines männlichen Körpers raubte mir fast den Verstand. Er benutzte kein Parfüm. Es war sein eigener Geruch nach sonnengebräunter, wilder Männlichkeit. Ich nahm den großräumigen Salon um uns herum kaum mehr war. Auch nicht das Stimmengewirr seiner Schwestern und seiner Mutter aus der Küche. Jeder Blick in seine grünen Augen verschlug mir sofort den Atem.
Dabei sah auch er mir so tief in die Augen, so unendlich tief, dass ich das Gefühl hatte, mich völlig zu verlieren. Wenn seine wunderschönen langen, schwarzen, lockigen Haare mich berührten, fuhren kalte Schauer über meinen Rücken. Ich kann mich noch erinnern, dass er die Initiative ergriff und mich fragte, ob ich Lust hätte, um unseren Dorfsee zu spazieren. Ich war überglücklich, und willigte sofort mit klopfendem Herzen ein.
Doch Chris spielte offensichtlich mit meiner Unerfahrenheit. Männer können das mit siebzehn schon sehr gut. Er hatte schnell begriffen, dass ich hoffnungslos in ihn verliebt war. Aber ich war nur ein einfaches Lehrerkind. Zwar inzwischen trotz meiner Burschikosität ein ausgesprochen schönes und ansehnliches Mädchen, aber eben ohne gesellschaftlichen Status.
Wir führten trotzdem sehr anregende und intensive Gespräche. Selbst zu dieser Zeit konnte ich, auch ohne Gymnasium, schon recht anregende Konversation betreiben. Dies allerdings erst, wenn ich die erste Schüchternheitsphase einmal überwunden hatte. Und das konnte bei mir dauern. Eigentlich war mein Bruder ja der Klavierlehrer der Familie. Da nützte es auch nichts, dass ich spürte, Chris hätte gerne – oder sogar viel lieber – mich als seine Klavierlehrerin. Mein Bruder hatte verständlicherweise kein Interesse daran, das für ihn wertvolle und notwendige Geld zu verlieren, bzw. ein Treffen für mich zu arrangieren. Für ihn war die Kohle viel zu wichtig. Beinahe wäre ich Jo auf eine Art losgeworden, die ich niemals gewollt hätte. Beim Baden fiel ihm der elektrische Fön in die Badewanne. Er war bereits klinisch tot, als wir die Fensterscheibe endlich eingeschlagen und die Tür des Badezimmers aufgebrochen hatten. Othmar, unser jüngster Bruder und Draufgänger hat heute noch gut sichtbare Narben an seinem Arm, verursacht durch das zerbrochene Glas der Fensterscheibe. In Ermangelung eines brauchbaren Gegenstands hatte er in der Eile und wohl auch im Schock einfach seinen Arm zum Einschlagen des Fensters benutzt. Mein Vater und mein Onkel Max holten Jo schließlich mit Mund zu Mund Beatmung und Herzmassage wieder zurück ins Leben. Nach einiger Zeit im Krankenhaus hatte sich mein Bruder so weit erholt, dass er auch das Abitur noch mitschreiben konnte.
Читать дальше