Sucky übergab sich und spie grauen Schleim.
„Wir müssen uns konzentrieren, noch ein paar Minuten. Wo sind die Tiere? Draculetta, Tarantilli, Posi…!“
Elester keuchte. Ein vernünftiges Wort schien ihm an diesem Ort kaum über die Lippen zu kommen. Er war der einzige, der noch nahe am Abgrund stand.
Draculetta flatterte verschlafen auf Elesters Schulter. „Mann, ist das laut hier!“
„Flieg, so schnell du kannst, über den Sumpf, aber pass auf mit den Masten…“
„Unmöglich, Elester, bei dem Lärm verlier ich die Orientierung!“
„Dann nimm Tarantilli mit. Sie wird dich durch den Mastenwald lotsen. Ihr wisst, was ihr zu tun habt! Helft Posi auf seiner Mission. Posi, es…, es ist so weit.“
„Gut, Elester, ich bin bereit!“ „Dann such …diese… Le…, diese Fr… eule! Du weißt schon, wen ich… meine…“ Elester konnte kaum mehr klar denken und brach schließlich zusammen. Pat und Penny Lo zogen ihn rasch vom Abgrund weg und torkelten zurück in den schützenden Wald. „Ach, natürlich, schon wieder diese Halbgöttin! Wäre ja nicht das erste Mal, dass ich nach ihr suche!“, piepste Posi und erhob sich in die Lüfte – gemeinsam mit einer Fledermaus, auf der eine Flohspinne saß. Da es Tag und Draculetta natürlich ganz duselig und unausgeschlafen war, übernahm Tarantilli sofort das Kommando.
Kapitel 11 Die Sonne hat ein Gesicht
Nachdem der Strand wieder sauber war, saßen Kat, Lerry und Maracella am Meer. Sie blickten hinaus auf den Horizont, zu dem Feuerball, der langsam im Meer versank.
„Es sieht ja wirklich so aus, als wenn der Himmel und das Meer eins werden, da draußen!“, sagte Maracella und dachte an ihre verbrannte Geschichte. Kat und Lerry schwiegen. Auch sie dachten nach.
„Sag, Lerry, wovon handelt unsere Geschichte eigentlich? Ich war ja die ganze Zeit hier, die Haupthandlung hab ich irgendwie nicht mitbekommen.“
„Hmm“, brummte Lerry und malte ein Ei in den Sand.
„Na, sag schon!“, drängte Kat.
„Na ja, also, es ging um… so was wie einen Göttervogel oder eine Göttin, der genaue Unterschied war mir nie wirklich klar.“
„Und?“, wollte jetzt auch Maracella wissen.
„Naja, dieser Göttervogel legte sein Ei in ein Nobelinternat, so ähnlich wie Eton, was aber vorerst niemand bemerkte.“
„Cool!“, meinte Maracella, „aber warum tat der Vogel das?“
Lerry zuckte mit den Schultern.
„Ich weiß nicht. Wahrscheinlich hatte er so etwas wie einen göttlichen Auftrag. Es war allerdings ein ziemliches Chaos, denn plötzlich tauchte eine neue Lehrerin auf, angeblich ohne jede Lehrbefugnis, aber mit sehr viel ‚Know how’.“
„Und alle Figuren, die Lisa erschuf, schlüpften die… aus dem Ei?“, wollte Maracella wissen.
„Ja, so in etwa. Und die Lehrerin entpuppte sich als Halbgöttin!“
„Und? Was geschah dann?“, fragte Kat bestimmt, dem Geschichten schnell zu kompliziert werden konnten.
Doch Lerry zeigte nur auf das verglühende Rot. „Jetzt hat die Sonne ein Gesicht, könnt ihr es sehen?“ Seine Stimme klang ernst. Und wirklich, als Lerry und Maracella konzentriert auf den Horizont blickten, sahen sie, wie weit draußen Schiffe Muster in den sinkenden Feuerball zeichneten. Der Anblick war Kat Antwort genug. Bald darauf funkelten Sterne am Nachthimmel. Lange saßen die drei noch da und schwiegen.
„Glaubt ihr, dass es nur einen Gott gibt, oder glaubt ihr, es gibt viele Götter?“, durchbrach die Stimme der seit achtundreißig Jahren Achtjährigen nach geraumer Zeit die dunkle Stille.
Lerry zuckte wieder mit der Schulter, was aber niemand mehr bemerken konnte. Dann meinte er nachdenklich, „So etwas fragen sich die Menschen schon ewig, aber vielleicht ist der eine Gott in vielen Göttern enthalten und umgekehrt…“
„Glaubt ihr, dass Gott die Menschen erschaffen hat, oder dass die Menschen Gott erschaffen haben?“, bohrte Maracella weiter.
„Auch das ist eine uralte Streitfrage“, warf Kat ein. „Wie mit der Henne und dem Ei…“
„Ja, aber das ist doch auch nur ein Problem für die Menschen mit ihrer atemberaubenden Logik! Vielleicht ist es im Grunde gar kein Widerspruch“, rätselte Lerry. „Oder glaubt ihr, die Tiere oder die Pflanzen denken über so etwas nach?“
„Na ja, ich möchte eingentlich nur wissen, wer uns erschaffen hat“, meinte Maracella leise.
„Lisa natürlich!“
„Und wer ist Lisa.“
„Lisa ist eindeutig ein Mensch!“
„Und wer sind wir?“
„Romanfiguren!“
„Aber warum können wir dann hier am Strand von Hawaii sitzen ohne unsere Geschichte?“
„Tja, das ist allerdings in der Tat komisch“, antworte Lerry dem Mädchen. „Aber vielleicht sind wir mehr als wir glauben. Im Grunde sind wir ja Romanfiguren und Menschen“, fügte er ernst hinzu.
„Wahrscheinlich sind wir Romanfiguren, Menschen und Götter! Na kommt, gehen wir, mir wird schon langsam kalt!“, meinte Kat und stand auf.
Hinter den Dünen fauchte eine Hawaiieule.
Kapitel 12 Lisa weiß nicht weiter
Das erste, was Lisa hörte, war der Schrei einer Seemöwe. Verschlafen drehte sie sich auf die andere Seite. Eine Göttin zwinkerte, nachdem Lisa noch einmal ins Land der Träume gesunken und ein Vogel dort mit ihr über Wüstensand geflogen war.
Am Frühstückstisch stellte Alwin wieder einmal die Frage: „Und jetzt?“
„Wir mieten ein Boot, um an der Küste entlang zu fahren oder vielleicht auch auf eine nahe Insel!“
„Suchst du etwas Bestimmtes?“
„Nein, nur das Meer, die Landschaft und die Tiere “, meinte Lisa lächelnd.
Alwin gab sich mit dieser Antwort zufrieden. Er hatte Schlimmeres erwartet, so etwas wie: „Wir gehen schwimmen, tun so, als wären wir beheimatete Robben, und warten auf von Meerwasser überspülten Felsen auf ultimative Intuitionsergüsse!“ Insofern fand er ihren Vorschlag beruhigend, einfach und unkompliziert und freute sich auf ein paar Tage Naturerlebnis, obwohl er natürlich insgeheim mit den größten Katastrophen rechnete, so realistisch war er.
Das kleine Hotel in dem sie wohnten lag unweit von der Bootsanlegestelle. Sie gingen den Kai hinunter, es roch nach Fisch und Meertang. Mit einem gemieteten Motorboot fuhren sie dann Richtung Norden, die Küste entlang. Einige Wolken zogen auf und warfen Schatten über die Grashügel, als wollten sie wandernde Figuren erschaffen; zumindest sah das Lisa so. Für einen poetischen Hinweis genügte das Naturschauspiel jedoch leider nicht. Das Boot passierte schließlich einen Felsvorsprung, dahinter schlängelte sich der Meerarm in Landesinnere. Ein Grashügel erhob sich, nicht höher als zweihundert Meter.
„Lass uns hier hineinfahren!“, schlug Lisa Alwin vor. Sie folgten dem Wasserlauf und sahen die ersten Steine am Meeresboden. Alwin stoppte den Motor.
„Und jetzt?“
„Wir besteigen diesen Hügel!“
„Lisa?!“
„Ach, komm schon, Alwin!“
Seufzend gab er nach. Sie machten das Boot an einem Pfahl fest, schlüpften in Wellington-Boots und wateten zum Ufer. Dort stapften sie den schmalen Weg zur Hügelspitze.
Erschöpft ließ sich Alwin auf einem Stein nieder. Mit einem Schmunzeln auf den Lippen sah er zu Lisa, die das offene Meer betrachtete.
„Wir könnten ja nach Lewis hinüberfahren und den Steinkreis von Callanish betreten, vielleicht stülpt sich dann ein freundliches schwarzes Loch über uns, und wenn es uns wieder ausspuckt, sind wir im Nichtigen Reich. Wir schnippen noch dreimal mit den Fingern, und landen am besten mit all deinen Romanfiguren wieder auf Hawaii, das ließe sich sicher einrichten…!“
Leise erwiderte Lisa: „Es ist so schön hier, es gibt Steine, Tiere, Pflanzen… Irgendwie helfen sie mir!“
Bevor sie wieder ins Boot stiegen, spazierten sie noch die Küste entlang. Nach einer Weile gelangten sie zu kleinen Felsblöcken, über die sie sprangen. Es tat Lisa gut, hier alleine mit Alwin zu sein, der nun gar nicht mehr murrte und diese kleine Wanderung genoss. Einzig die vielen leeren Plastikflaschen und Kanister, die angeschwemmt zwischen den Felsen liegengeblieben waren, verdüsterten ihre Stimmung.
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