Schweigend sah sie ihn an, während die Erinnerung zurückkehrte.
Plötzlich herrschte sie ihn an, sich die Hände und das Gesicht zu waschen, da er draußen gespielt habe, wo man sich nur dreckig machte, und außerdem wäre er sowieso ganz verschwitzt.
Mit diesen Worten trat sie einen Schritt zurück, riss ihn unsanft aus seinen Visionen. Missmutig rutschte er vom Bett.
Er schlurfte widerwillig hinüber zum Waschbecken, ohne sie jedoch aus den Augen zu lassen. Niemals zuvor hatten ihn derartige Gedanken befallen und niemals zuvor befand er sich in einer derart prekären Situation. Im selben Moment, als er das Waschbecken erreichte, war sie bei ihm. Sie griff nach seinen Händen und zerrte sie ungeduldig unter den Wasserhahn, als ginge ihr das alles viel zu langsam.
Wieder stieg ihm der Gummigeruch in die Nase und attackierte seine gereizten Schleimhäute.
„Hier!“, herrschte sie ihn an, „Mit Seife natürlich!“
Ganz dicht spürte er sie im Nacken, während er sein Gesicht wusch. Das Wasser kühlte sein erhitztes Blut. Es tat gut, doch unglücklicherweise schwemmte ihm Seife in die Augen. Sofort attackierte ihn ein brennender Schmerz. Reflexartig drückte er die Handballen in die Augenhöhlen, um den Schmerz zu lindern, aber es brannte dadurch nur noch mehr. Sein Nacken verkrampfte sich und er stöhnte verhalten auf, während die Handballen noch stärker die Augenhöhlen rieben.
Der Wasserhahn wurde zugedreht.
Sie drückte ihm ein Handtuch an den Kopf, nach dem er wie ein Ertrinkender griff und es an die schmerzenden Augen presste. Dann erst trocknete er sich ab.
Er hörte sie schnell und tief atmen, spürte den Luftzug im Nacken. Doch seine Augen weigerten sich, auch nur einen winzigen Spalt nachzugeben, damit er wieder sehen konnte. Sie tränten und brannten entsetzlich. Ihm war, als würden ihn sämtliche Gesichtsnerven zu einer entsetzlichen Fratze verwandeln, und noch immer hielt er den Kopf über das Wachbecken, als müsste er sich jeden Augenblick übergeben.
„Bist du fertig?“ Natürlich bemerkte er den ungeduldigen Unterton in ihrer Stimme. Langsam richtete er sich auf und drehte sich um.
Er blinzelte wie durch einen dicken, nebligen Schleier. Er konnte nichts erkennen, nicht einmal ihre Umrisse. Dennoch konnte er sie ganz dicht vor sich spüren, sog den intensiven Gummigeruch ein, der ihn mehr und mehr verwirrte.
Er spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss.
„Na, jetzt hast du auch noch Seife in die Augen bekommen“, lag jetzt ein angenehmer Klang in ihrer Stimme, während er den Kopf hängen ließ. Plötzlich spürte er ihre Hand am Hinterkopf.
Diese Berührung jagte einen groben Schauer über seinen schweißnassen Rücken und verteilte sekundenschnell schartige Gänsehaut. Ihre andere Hand umfasste seinen rechten Arm und zog ihn dicht zu sich heran. „Warte, das Brennen ist gleich verschwunden“, sagte sie sanft. „Komm’, sieh’ mich an.“
Georgie hob den Kopf.
Behutsam umfasste sie seinen Hinterkopf und dann drückte sie sein Gesicht wie in Zeitlupe an ihren mächtigen Busen.
Sofort blieb ihm die Luft weg. Instinktiv öffnete er den Mund.
„Du hättest mich fragen sollen“, hörte er sie wie aus einem Nebenzimmer, „Über Zäune klettern und nach Bällen suchen … so etwas tun unsere Jungs nicht. Und du willst doch ein braver Junge sein, Georg?“
Ihre Worte drangen nicht mehr zu ihm durch. Er tauchte in weiche, feuchte Haut, rang zunehmend nach Luft, wollte aber um gar keinen Preis auftauchen. In dieser pulsierenden Hautspalte war es angenehm warm und diese Wärme wollte sein Gesicht zum Glühen bringen. Es war ein unbeschreiblich schönes, aber auch befremdliches Gefühl, das ihn mit tollster Wucht traf. Mit schlaff herabhängenden Armen ergab er sich kampflos, während der Druck an seinem Hinterkopf nicht nach ließ. Tante Irmtraut erlebte alle Erinnerungen auf einmal und begann schwer zu atmen.
Es ärgerte ihn, dass er jetzt so dringend Luft benötigte.
Sie hatte die Augen geschlossen und den Kopf in den Nacken fallen lassen. Das Brennen in seinen Augen war verflogen, jedenfalls lenkte ihn kein Schmerz mehr ab, im Gegenteil, sein ganzes Gesicht glühte.
Leicht bewegte er den Kopf hin und her.
In diesem Augenblick stand für ihn fest, dass er gerade sein größtes Geheimnis vergraben hatte, und ihm war klar, dass er nicht mal seinem besten Freund Kessie davon erzählen würde.
Und Tante Irmtraut redete und redete.
Einige Wortfetzen drangen zu ihm durch, aber er konnte sie in keinen Zusammenhang bringen …Leihmutter, ihre Babys, Waisenkammer … das Käfterchen … die Babys stillen … Gasschleuse! Ebling … und die Hunde …
Plötzlich stieß sie ihn weg. Doch sofort packte sie ihn an den Armen.
Mit tiefer Befriedigung betrachtete sie ihn, da sein Gesicht schweißgetränkt und gerötet war. Sie nickte still und erhaben, während Georgie heftig frische Luft einsog und dabei mehrmals schluckte.
An den intensiven Gummigeruch hatte er sich längst gewöhnt und er sah, woher er kam. Unter dem Kittel trug sie ein hautfarbenes Mieder und einen BH, der sich zusammen mit dem Mieder vorne öffnen ließ.
„Bis dich deine Mutter abholt, bleibst du hier“, hörte er sie sagen, „und legst dich in das Bett hier.“ Sie bugsierte ihn zu dem alten Krankenbett hinüber und drückte ihn energisch nieder. Georgie ließ sich willenlos fallen. Knirschend stöhnte das Eisengestell auf.
„Zieh’ den Pulli und deine Hose aus“, befahl sie und Georgie tat auch das, ohne die geringste Gegenwehr.
Rasch zog sie die gefaltete Bettdecke zurück und er glitt hinein, während das Bett unter ihm bedrohlich knarrte. Vergebens kämpfte er mit seinen wachen Verstand und er war auf dem besten Weg, auch diesen Kampf kläglich zu verlieren. Urplötzlich begann sein ganzer Körper zu zittern, wobei das Zentrum in der Nierengegend lag.
Tante Irmtraut ging zurück zum Waschbecken. Sie sah in den Spiegel und betrachtete sich, drehte sich ein wenig. Mal nach links und mal nach rechts.
Georgie sog jede Bewegungen tief ein und obwohl ihn die Schreibtischlampe blendete, entging ihm nicht, dass sie das Handtuch nahm und sich die vielen Schweißperlen von der Stirn und vom Halsansatz abtupfte.
Automatisch blinzelte er, um besser zu ihr durchzudringen.
„Natürlich … ich könnte dir eine Geschichte erzählen“, sagte sie auf einmal, ohne sich vom Spiegel abzuwenden. Ihre Hände glitten an den breiten Hüften hinauf. Dann drehte sie sich um.
Mit dem Handtuch kam sie ans Bett. Automatisch drückte sich Georgie tiefer in die durchgelegene Matratze, als versuchte er, seinem Schicksal irgendwie entrinnen zu können.
Noch immer glühte sein Gesicht.
„Ich bleibe hier und erzähle dir etwas, das du wissen musst“, riss sie ihn aus seinen Gedanken.
Langsam krochen seine Augen an ihr hoch. Ihre Blicke trafen sich sekundenlang, dann glitten sie wieder an ihr hinab.
Sie setzte sich seitwärts auf das Bett.
Sie lächelte und ein liebevoller Blick betrachtete ihn eindringlich. Wortlos nahm sie seine Hand und reichte ihm das Handtuch.
Dann begann sie, eine Geschichte zu erzählen, die sehr weit zurückzureichen schien, mit der Georgie aber überhaupt nichts anfangen konnte. Sie sprach leise, legte den Kopf schräg.
Sie sah ihn an, doch ihre Worte drangen nicht wirklich zu ihm durch: „Vor langer Zeit wurde ich schwanger … Sie haben mir mein Baby weg genommen … Mein Mädchen. Ich gab ihr den Namen Marie … Habe mein Baby nie gesehen.“ Sie stützte sich neben ihm ab, sodass sie sich ein Stück vorbeugte. Georgie fühlte ihre Hitze, als würde er selbst auf einmal unglaublich schwitzen. Dabei redete sie weiter, als würde das alles ganz woanders geschehen: „Auch den Kindsvater habe ich nie wieder gesehen … nur das eine Mal.“ Unterstreichend sank ihr Blick zu ihm hinab.
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