GREIL MARCUS
VON DADA BIS PUNK –
KULTURELLE AVANTGARDEN
UND IHRE WEGE
AUS DEM 20. JAHRHUNDERT
Deutsch von Hans M. Herzog
und Fritz Schneider
Deutsch von Hans M. Herzog und Fritz Schneider.
»Eine Anmerkung zur Neuauflage von 2022«, »Zitierte und nachträglich aufgespürte Werke«, »Danksagungen« und »Der Autor« wurden von Fritz Schneider, einzelne Passagen von Ingo Rüdiger ins Deutsche übertragen.
Die Originalausgabe erschien 1989 unter dem Titel »Lipstick Traces. A Secret History of the Twentieth Century« bei Harvard University Press, Cambridge, MA. 1992 erschien bei Rogner & Bernhard, Hamburg, die deutsche Erstausgabe unter dem Titel »Lipstick Traces. Von Dada bis Punk – kulturelle Avantgarden und ihre Wege aus dem 20. Jahrhundert«.
© Ventil Verlag UG (haftungsbeschränkt) & Co. KG, Mainz 2022
Abdruck, auch in Auszügen, nur mit ausdrücklicher Erlaubnis des Verlages. Alle Rechte vorbehalten.
In Kooperation mit Tapete Records
print-ISBN print 978-3-95575-156-2
e-ISBN 978-3-95575-620-8
Covergestaltung: Oliver Schmitt
Ventil Verlag, Boppstraße 25, 55118 Mainz
www.ventil-verlag.de
PROLOG
Version eins:
DAS LETZTE KONZERT DER SEX PISTOLS
Version zwei:
DIE GEHEIME GESCHICHTE EINER VERGANGENEN ZEIT
— Gesichter
— Freiheitslegenden
— Die Kunst des Zusammenbruchs von gestern
— Der Zusammenbruch der Kunst von gestern
— Der Überfall auf Notre-Dame
— Der Angriff auf Charlie Chaplin
— Lippenstiftspuren (auf einer Zigarette)
EPILOG
Zitierte und nachträglich aufgespürte Werke
Quellennachweise
Personenregister
Danksagungen
Der Autor
EINE ANMERKUNG ZUR NEUAUFLAGE VON 2022
Seit dem erstmaligen Erscheinen dieses Buchs im Jahr 1989 sind etliche der darin agierenden oder zu Wort kommenden Personen verstorben. Voller Demut gedenke ich ihrer: Es sind der politische Journalist und Patriot Walter Karp, 1934–89; das Monty-Python-Mitglied Graham Chapman, 1941–89; der Fotograf Ed van der Elsken, 1925–90; der politische Philosoph Henri Lefebvre, 1901–91; der Filmemacher und Mitbegründer der Lettristischen sowie der Situationistischen Internationale Guy Debord, 1930–94; der Lautdichter, Collagist und Mitbegründer der Lettristischen Internationale Gil J Wolman, 1929–95; der Redner und Lehrer Mario Savio, 1942–96; das visionäre Mitglied der Lettristischen Internationale Ivan Chtcheglov, 1933–98; der Sänger und Mitbegründer der Clash Joe Strummer, 1952–2002; das Mitglied der Lettristischen Internationale Jean-Michel Mension, 1934–2006; der Spiritus Rector des Lettrismus Isidor Isou, 1925–2007; der Historiker Norman Cohn, 1915–2007; der Gründer von Factory Records und Betreiber des Nachtlokals Hacienda Tony Wilson, 1950–2007; der Cartoonist Ray Lowry, 1944–2008; der Herausgeber und das Mitglied der Situationistischen Internationale Christopher Gray, 1942–2009; der Sänger Michael Jackson, 1958–2009; die Sängerin Ari Up von den Slits, 1962–2010; die Sängerin Poly Styrene von X-Ray Spex, 1957–2010; der Sex-Pistols-Manager und Künstler Malcolm McLaren, 1946–2010; die Songschreiberin und Managerin der Orioles Deborah Chessler, 1923–2012; das Firesign-Theater-Mitglied Peter Bergman, 1939–2012; das Firesign-Theater-Mitglied Phil Austin, 1941–2015; der Toaster Prince Buster, 1938–2016; die Gitarristin von Kleenex und Liliput Marlene Marder, 1954–2016; der Mitbegründer des Lettrismus Maurice Lemaitre, 1926–2018; das Monty-Python-Mitglied Terry Jones, 1942–2020; und der Gitarrist und Sänger der Gang of Four Andy Gill, 1956–2020.
Im selben Zeitraum ist jede Menge Material aufgetaucht, das mit diesem Buch auf direkte oder indirekte Weise in Zusammenhang steht – obskure, ephemere, unübersetzte oder lange nicht verfügbare Bücher, Zeitschriften, Flugblätter, Filme, Videos, Gemälde, Fotografien, Collagen und Tonaufnahmen –, und in dem jetzt mit »Zitierte und nachträglich aufgespürte Werke« übertitelten Abschnitt habe ich versucht, mit dieser Entwicklung Schritt zu halten. Von einigen Fehlerkorrekturen abgesehen, ist der Haupttext des Buchs unverändert geblieben.
Für John Rockwell, der mich drauf brachte. Für das Firesign Theater und Monty Python’s Flying Circus, die mich durchbrachten .
Aus dem Fenster eines Londoner Cafés schauen zwei gut gekleidete Frauen naserümpfend auf eine draußen im Regen stehende Gestalt. »Schon wieder dieser heruntergekommene Alte mit der Blechpfeife!« sagt die eine. Der Mann mit dem in die Stirn gezogenen, zerbeulten Filzhut versucht, sich Gehör zu verschaffen: »Ich bin ein Antichrist!« »Siebzehn lange Jahre«, so lautet der Text unter dieser Folge von Ray Lowrys Comicstrip-Chronik der Abenteuer des ehemaligen Möchtegern-Popheilands Monty Smith, »sind vergangen, seit Monty in der Gosse vor Malcolm MacGregors Sex ’n’ Drugs-Laden gesichtet wurde …«
Wahrhaftig eine lange Zeit; doch heute, während ich dies schreibe, halten Johnny Rottens erste Momente auf »Anarchy in the U.K.« – grollendes, erdbebenartiges Gelächter, ein unterdrückter Schrei, dann uralte, irgendwie von allem Geschwafel befreite und in den Straßen der Stadt gelandete Worte
I AM AN ANTICHRIST
– immer noch jedem Vergleich stand. Wenn ich mir die Platte heute anhöre, wenn ich höre, wie Johnny Rotten an seinem Text zerrt und dann die Teile der Welt ins Gesicht schleudert, wenn mir das alles verzehrende Lächeln einfällt, das er beim Singen aufsetzte, kriege ich eine Gänsehaut; ich schrecke zurück, während auf meiner Kopfhaut der Schweiß ausbricht. »Wenn du dir die Sex Pistols anhörst, ›Anarchy in the U.K.‹ und ›Bodies‹«, sagte einmal Pete Townshend von den Who, »merkst du sofort, dass das wirklich passiert . Da steht einer, einer mit ’nem Hirn zwischen den Ohren, und erzählt etwas, von dem er ehrlich glaubt, dass es in der Welt passiert, und das sagt er richtig giftig, richtig leidenschaftlich. Das lässt dich nicht unberührt, und es macht dir Angst … dir wird ganz mulmig: Als würde jemand sagen: ›Die Deutschen kommen! Und wir können sie unmöglich aufhalten!‹«
Es ist bloß ein Popsong, ein Möchtegernhit, ein ehemaliger Hit, eine billige Ware, und Johnny Rotten ist niemand, ein anonymer Vorbestrafter, dessen größte Leistung bis zu jenem Tag, als er im Jahre 1975 vor Malcolm McLarens Sex-Boutique in der Londoner King’s Road entdeckt wurde, darin bestand, ab und zu Passanten zu ärgern. Es ist ein Witz … und doch stellt die Stimme, die den Witz erzählt, etwas Neues im Rock ’n’ Roll dar, und damit in der populären Nachkriegskultur: eine Stimme, die sämtliche gesellschaftlichen Fakten leugnete und dadurch beteuerte, dass alles möglich war.
Und sie bleibt neu, weil der Rock ’n’ Roll sie immer noch nicht eingeholt hat. Etwas Ähnliches hat man weder vorher noch nachher im Rock ’n’ Roll gehört … obwohl diese Stimme, als sie erklungen war, eine Zeit lang für jeden verfügbar zu sein schien, der sich traute, sie zu benutzen. Eine Zeit lang und wie durch Zauberkraft – die Popzauberkraft, bei der die Koppelung bestimmter gesellschaftlicher Fakten an bestimmte Sounds unwiderstehliche Symbole der Veränderung gesellschaftlicher Realität schafft – funktionierte diese Stimme wie eine neue Redefreiheit. In zahllosen neuen Kehlen sagte sie zahllose neue Dinge. Man konnte kaum das Radio einschalten, ohne überrascht zu werden; man konnte ihr kaum entkommen.
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