Heute klingen diese alten Stimmen noch genauso bewegend und beängstigend … teils, weil ihre Ansprüche unvermindert dieselben, teils, weil sie in der Zeit eingefroren sind. Die Sex Pistols waren ein kommerzielles Unternehmen und eine kulturelle Verschwörung mit dem Ziel, das Musikgeschäft zu verändern und an dieser Veränderung Geld zu verdienen – aber Johnny Rotten sang, um die Welt zu verändern. Das taten auch andere, die eine Zeit lang ihre Stimmen in seiner wiederfanden. In dem von ihnen hinterlassenen schmalen Œuvre hört man, wie es passiert. Beim Zuhören merkt man, wie man reagiert: »Das passiert wirklich.« Doch die Stimmen verharren in der Zeit, weil man sich nicht umdrehen und rückblickend sagen kann: »Das ist wirklich passiert.« Nimmt man Kriege und Revolutionen als Maßstäbe, hat sich nichts verändert; wir halten Rückschau aus einer Zeit, in der, wie es Dwight D. Eisenhower einmal formulierte, »die Dinge mehr so wie jetzt sind, als sie es je waren«. Gemessen an den absoluten Ansprüchen, die von den Sex Pistols für so kurze Zeit erzeugt wurden, hat sich nichts verändert. Der von den Ansprüchen der Musik ausgehende Schock wird zu dem Schock, dass etwas scheinbar so Absolutes im Lauf der Ereignisse letztlich fast unbemerkt vergehen konnte: »Das ist eigentlich doch nicht geschehen.« Die Musik strebt danach, das Leben zu verändern; das Leben geht weiter, die Musik bleibt zurück; nur darüber lässt sich noch reden.
Die Sex Pistols schlugen eine Bresche in das Popmilieu, in die Mauer überkommener kultureller Voraussetzungen, die Hörerwartungen und zu erwartende Reaktionen bestimmten. Weil überkommene kulturelle Voraussetzungen hegemonische Annahmen darüber sind, wie die Welt angeblich funktioniert – als Naturgesetze aufgefasste und erfahrene ideologische Konstrukte –, schlug die Bresche im Popmilieu auf den Bereich des Alltagslebens durch: auf das Milieu, in dem man als Pendler zur Arbeit fuhr, in der Fabrik, dem Büro oder dem Einkaufszentrum seinem Job nachging, ins Kino ging, Lebensmittel einkaufte, Schallplatten erwarb, fernsah, miteinander schlief, Gespräche führte, keine Gespräche führte oder auflistete, was man als Nächstes tun wollte, also auf die allgemeinen Lebensumstände der Menschen.
Den Ansprüchen nach zu urteilen, die eine Schallplatte der Sex Pistols an die Welt stellte, musste sie die Art verändern, wie sich jemand allmorgendlich zur Arbeit begab … mit anderen Worten, die Platte musste diese Handlung mit jeder anderen verknüpfen und dann das große Ganze in Frage stellen. So würde die Platte die Welt verändern.
Elvis Costello erinnert sich, wie es damals gelaufen war, als er noch Declan McManus hieß, Computerspezialist war und auf seinen Zug in die Londoner Innenstadt wartete. Man schrieb den 2. Dezember 1976, den Tag nach dem Werbeauftritt der Sex Pistols in einer Fernseh-Talkshow für ihre Platte, die die Welt verändern sollte: »›Mann, hast du gestern Abend die Sex Pistols gesehen?‹ Auf dem Weg zur Arbeit, ich stand morgens auf dem Bahnsteig, und alle Pendler lasen die Zeitung, als die Pistols in den Schlagzeilen auftauchten … weil sie in der Glotze FUCK gesagt hatten. Etwas so Schreckliches war offenbar noch nie dagewesen. Man sollte das nicht mit einem bedeutenden historischen Ereignis verwechseln, aber es war ein großartiger Morgen – allein mitzukriegen, wie der Blutdruck der Leute deswegen rauf und runter schnellte.« Ein alter Traum hatte sich erfüllt: Als hätten die Sex Pistols, oder einer ihrer neuen Fans, oder ein Pendler neben ihm oder das Fernsehen selbst glücklicherweise eine 1919 in Berlin von einem gewissen Walter Mehring erdachte Formel wiederentdeckt und diese Formel anschließend buchstabengetreu, wortwörtlich umgesetzt, wenn auch unter anderem Namen:
???Was istDADAyama???
DADAyama ist
vom Bahnhof nur durch ein’n Doppelsalto erreichbar
Hic salto mortale!
DADAyama bringt
das Blut in Wallung
sowie die Volksseele zum Kochen
im Melting pot
– teils Stierkampf-Arena – teils
Nationalversammlung – teils
Rot-Front-Meeting
½ Blech ½ Eisen
versilbert
gleich Mehrwert dividiert durch:
∞ + Null komma Nichts
Durch ein halbes Jahrhundert voneinander getrennt, stellen Costello und Mehring die Frage, die sich durch dieses Buch zieht: Ist es ein Fehler, das Auftreten der Sex Pistols mit einem bedeutenden geschichtlichen Ereignis zu verwechseln … und was ist überhaupt Geschichte? Bedeutet Geschichte nichts weiter als Ereignisse, die wäg- und messbare Dinge zurücklassen – neue Institutionen, neue Landkarten, neue Herrscher, neue Sieger und Verlierer –, oder ist sie auch das Resultat von Momenten, die scheinbar nichts zurücklassen, nichts als das Rätsel von mysteriösen Verbindungen zwischen räumlich und zeitlich weit voneinander getrennten Menschen, die dennoch die gleiche Sprache sprechen? Wie kommt es, dass sowohl Mehring als auch Costello, wenn sie einen markanten Bruch beschreiben, von Bahnsteigen und Blutdruck reden? Dass sie übereinstimmende Worte verwenden, ist ein Zufall, könnte aber auf eine echte Geistesverwandtschaft hindeuten. Die beiden Männer sprechen über das gleiche, suchen nach Wörtern, um einen Bruch zu markieren; das ist womöglich kein Zufall mehr. Wenn die Sprache, die sie sprechen, der Impuls, dem sie Ausdruck verleihen, eine eigene Geschichte haben, könnte uns das nicht eine andere Story erzählen als die, die wir unser Leben lang gehört haben?
ist zu groß, um sofort in Angriff genommen zu werden … man muss sie beiseitelegen, sich selbst überlassen, damit sie zu ihrer eigenen Form findet. Was bleibt, ist Musik; hört man sich heute die Platten der Sex Pistols an, kommt es einem nicht wie ein Fehler vor, ihren Moment mit einem bedeutenden historischen Ereignis zu verwechseln. Hört man sich heute »Anarchy in the U.K.« und »Bodies« an, Elvis Costellos This Year’s Model , »Complete Control« von den Clash, »Boredom« von den Buzzcocks, »Oh Bondage Up Yours!« und Germfree Adolescents der X-Ray Spex, »Wake Up« von Essential Logic und »Fairytale in the Supermarket« der Raincoats, Chairs Missing von Wire und »Never Been in a Riot« von den Mekons, »An Ideal for Living« und Unknown Pleasures der Joy Division, »Once Upon a Time in a Living Room« von den Slits, »At Home He’s a Tourist« und »Return the Gift« der Gang of Four, »Kerb Crawler« der Au Pairs, »Ü« von Kleenex sowie (nachdem der Papiertaschentuchhersteller Kimberley-Clark die Band zu einer Namensänderung zwang) »Split« und »Eisiger Wind« von Liliput an, außerdem von den Adverts Crossing the Red Sea with the Adverts (auf dem Cover verschmierte Farbe, um die Fotocollage eines Wohnsilos sowie eine weiße Reklametafel mit dem Text »Land of Milk and Honey« in Behördenschrift: der Sound, von Anfang an chiliastisch, würde den Hörer zweifellos ins Gelobte Land oder vierzig Jahre lang in die Wildnis führen)… wenn man sich das heute anhört, und vor allem The Roxy London WC 2 (Jan–Apr 77) , ein zusammengeschustertes Livealbum, auf dem man hinter Tischgesprächen und splitterndem Glas diverse Gruppen öffentlicher Stimmen vernimmt, die nicht einmal in den Köpfen ihrer Erfinder existierten, bevor Johnny Rotten sich einen Antichrist nannte … höre ich mir dieses relativ kleine Œuvre an, das heute in Cut-out-Kisten, auf Sonderangebotstische, Sammlerbörsen oder Flohmärkte verbannt ist, empfinde ich so etwas wie Hochachtung angesichts der Qualität dieser Musik, davor, wie gut sie die Zeit überdauert hat.
Was an dieser Musik überdauert, ist ihr Wunsch, die Welt zu verändern. Es ist ein offenkundiger und schlichter Wunsch, doch hinter ihm steht eine unendlich komplexe Story … so komplex wie das Zusammenspiel alltäglicher Gesten, die einem sagen, wie die Welt funktioniert. Der Wunsch beginnt mit dem Anspruch, nicht als Objekt, sondern als Subjekt der Geschichte zu leben, so zu leben, als hänge von dem, was du tust, tatsächlich etwas ab, und dieser Anspruch eröffnet neue Perspektiven. Die Musik verdammte Gott und den Staat, Arbeit und Freizeit, Heim und Familie, Sex und Vergnügen, das Publikum und sich selbst und machte es dadurch für kurze Zeit möglich, alle diese Dinge nicht als Tatsachen, sondern als ideologische Konstrukte anzusehen, als etwas Fabriziertes, das sich ändern oder völlig abschaffen ließ. Es tat sich die Möglichkeit auf, diese Dinge als schlechte Scherze zu sehen und die Musik als den besseren Scherz. Die Musik wirkte wie ein Nein, das zu einem Ja wurde, dann wieder zum Nein und erneut zum Ja: Nichts ist wahr außer unserer Überzeugung, dass alles, was wir als wahr akzeptieren sollen, falsch ist. Wenn nichts wahr war, war alles möglich. Im Popmilieu, einer Arena, die sich die Gesellschaft hielt, um Symbole zu erzeugen wie zu entschärfen, in dem einzigen Milieu, wo ein Niemand wie Johnny Rotten eine Chance hatte, gehört zu werden, waren alle Regeln außer Kraft gesetzt. In Tönen, die die Popmusik noch nie von sich gegeben hatte, waren Ansprüche zu hören, die die Popmusik noch nie erhoben hatte.
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