Die Reaktion der Teilnehmer ist der beste Beweis dafür, dass meine Einstellung und meine Wahrnehmung »wahr« sind, sprich, wahrnehmbar, annehmbar und nutzbar für die anderen. Und das funktioniert, weil und solange ich mir selbst vertraue. Denn dann vertrauen die anderen mir auch. Sie befürchten nicht, in die Irre geführt zu werden. Sie haben keine Angst, fehlgeleitet zu werden durch ein Wissen, das ihnen nicht nützlich, womöglich sogar hinderlich ist in ihren Beziehungen, ihrer Kommunikation und Kooperation mit anderen Menschen oder auf ihrem eigenen Weg. Weil sie womöglich zu den zwanzig Prozent gehören, die anders denken, fühlen und handeln als die wissenschaftliche Norm.
Das Wissen, das ich vermittle, ist mutmaßlich nicht wissenschaftlich. Es ist in den allermeisten Fällen höchst persönlich, selbst erprobt und für gut befunden. Es ist Anwendungs- und Erfahrungswissen. Es schafft aber mehr als Wissen-schaf(f)t: Es verschafft mir das Vertrauen der Menschen, mit denen ich arbeite, lebe und mich umgebe. Also, fangen wir bitte endlich an, aus dem Herzen zu denken, zu sprechen und zu handeln, anstatt uns primär auf objektive Maßstäbe zu berufen, die wenig bis gar nichts mit unserer subjektiven Wirklichkeit zu tun haben!
1.3 Gefühle – die vermeintliche Schwachstelle
Zeig! Keine! Gefühle! In meiner Zeit beim österreichischen Bundesheer habe ich gelernt, dass Frieren ein unerwünschtes Gefühl ist – eines von vielen, wohlgemerkt. Es galt als anständig und ehrenhaft, seine Gefühle nicht zu zeigen. Bei den stundenlangen Grenzsicherungseinsätzen im tiefsten Winter war Kälte tatsächlich eine Wahrnehmung, die ich, so gut es ging, zu unterdrücken versuchte. Der Nachtfrost konnte sonst nämlich sehr unangenehm werden und die Nächte sehr, sehr lang. Ich gab mich also bewusst kühl, um nicht zu spüren, wie kalt mir war. Dass mir davon nicht warm ums Herz wurde, muss ich wahrscheinlich nicht extra erwähnen.
Das ist nur ein Beispiel von vielen, die ich hier erzählen könnte, das verdeutlicht: Gefühle zu zeigen gilt in unserer Gesellschaft als deplatziert. Es wird als ein Zeichen von Schwäche angesehen, wenn sich jemand nicht zusammenreißen kann, wie es so schön heißt. Schon kleine Kinder kriegen oft zu hören, dass »ja nichts passiert« sei, wenn sie einmal hinfallen. Oder: »Ist doch nicht so schlimm, hör auf zu weinen.« Ist dieser falsche Glaubenssatz einmal verinnerlicht, zieht das einen ganzen Rattenschwanz an Problemen nach sich. Denn: Was werden sie dabei lernen? Dass ihre Wahrnehmungen falsch sind, ihre Gefühle überschießend und fehl am Platz. Oder dass sie zumindest unangenehm für die Erwachsenen sind und sie sie deshalb lieber unterdrücken sollten. Auf diese Weise können bereits Kleinkinder das Vertrauen in sich selbst, ihre Emotionen und Intuition verlieren.
Spätestens seit ich selbst Vater bin, bin ich sehr aufmerksam, was solche Äußerungen angeht. Denn so gewöhnen sich Menschen von klein auf ab, ihre (ehrlichen) Regungen zu fühlen und der Außenwelt zu kommunizieren. Sie hören auf zu spüren und »verkopfen« sich. Sehr viele Erwachsene können mit ihren eigenen Gefühlen nichts anfangen, geschweige denn mit den Gefühlen anderer Menschen. Der Umgang damit fällt ihnen schwer, oft sogar schon die Wahrnehmung, das so genannte Einfühlen oder Hineinspüren. Das sehe ich immer wieder im Seminar- und Coaching-Setting. Und das ist die eigentliche Schwachstelle. Wer nicht auf andere eingehen kann, weil er deren Gefühle weder bemerkt noch versteht, tut sich schwer in der Zusammenarbeit. Und wer sich selber immer zurückhält und sich etwas verkneift, weil er negative Reaktionen befürchtet, wird irgendwann die Beherrschung verlieren. Meistens passiert das dann in unpassenden Situationen.
Schauen wir uns in der Berufswelt um. Besonders Frauen in Führungspositionen berichten mir häufig, dass sie zum Beispiel schon als hysterisch abgestempelt wurden, weil sie einmal emotional oder laut geworden sind. Wenn ein Mann sprichwörtlich »auf den Tisch haut«, gilt er zwar als Hitzkopf, kommt damit aber noch besser weg als seine Kollegin. Eine Frau darf nämlich nur aus den Eigenschaften schöpfen, die ihr von unserer Kultur zugedacht wurden, beispielsweise weich, lieb, ruhig, beherrscht und fürsorglich zu sein. Und wann ist ein Mann ein Mann? Wenn er ehrgeizig, hart und emotionslos ist. Diese Wesenszüge werden ganz klar Männern zugeschrieben und sind bei ihnen allgemein akzeptiert. Bei einer zielstrebigen Frau würde dasselbe Verhalten als geltungssüchtig und egoistisch wahrgenommen werden. Zeigt sich ein Mann dagegen von seiner einfühlsamen, warmherzigen Seite, kann es ihm leicht passieren, dass er das Etikett »Weichei« aufgedrückt bekommt.
Unsere Gesellschaft hat Qualitäten wie Sensibilität, Mitgefühl und Herzlichkeit also in die Schublade »weiblich« gesteckt. Sie sind außerdem mit dem Stempel »minderwertig« versehen und für Männer daher mit Scham behaftet. »Männer weinen nicht«, ausgenommen natürlich bei einer Beerdigung, dort aber dann richtig, bitteschön! Bei Trauerfeiern wird in unseren Breiten erfahrungsgemäß ziemlich alles herausgelassen an Gefühlen, was sonst nirgends hinzupassen scheint: Kummer, Niedergeschlagenheit, Wut, Schwere, Leid, Angst und Leere, um nur einige zu nennen. Gefühle brauchen eben ein Ventil – egal ob bei Frau oder Mann.
Alle diese Eigenschaften sind natürlich weder männlich noch weiblich, sie sind menschlich. Und menschliche Gefühle haben kein Geschlecht. Wenn wir trotzdem daran glauben und uns danach verhalten, zementieren wir nicht nur die althergebrachten, stereotypen Geschlechterbilder weiter ein, sondern stehen uns auch noch permanent bei unserem eigenen Glück und Erfolg im Weg. Wer ist zur Rechenschaft zu ziehen? Wir alle, jeder Einzelne, in jeder Situation. Wir dürfen uns nicht darauf berufen, dass wir es nicht gelernt haben, keine guten Vorbilder hatten oder haben. Es wird uns aber nicht leicht gemacht. Weil Emotionen wahrzunehmen und danach zu handeln für unsere Gesellschaft zu den größten Bedrohungen gehören. Der Status quo in unseren Firmen, Beziehungen und in der Welt kann nur erhalten werden, indem gewisse Gefühle wie Empathie und Liebens-würdigkeit gesamtgesellschaftlich geringgeschätzt werden. Die Abwertung von Gefühlen hat also nur ein einziges Ziel: den Systemerhalt.
Das ganze Spektrum an Gefühlen zu fühlen und unsere Entscheidungen und unser Verhalten danach zu richten, ist keine Schwachstelle. Es ist Menschlichkeit und in Wahrheit unsere Stärke! Nebenbei bemerkt die einzige, die uns im weiteren Verlauf des digitalen Zeitalters von Robotern unterscheiden und einen Vorteil verschaffen wird können. Schon heute sollen sich Menschen am besten nach einem bestimmten Muster verhalten, damit Abläufe wie gewohnt funktionieren und festgefahrene Systeme, Macht- oder Ressourcenverteilungen ja nicht in Frage gestellt werden. Man nennt das auch Kontrolle. Erstaunlicherweise fühlen sich viele in so einem System wohl und sicher. Ich nicht.
1.4 Selbstsicherheit ist tot, Kontrolle ist besser
In den vergangenen vier Jahren bin ich oft mehrmals wöchentlich auf Kinderspielplätzen unterwegs gewesen. Als Vater eines motorisch geschickten Kleinkindes war ich dabei meistens nur als Partner beim Versteckspiel oder für das Zeitnehmen beim Wettrennen gefragt. In der restlichen Zeit habe ich als stiller Beobachter aber einiges mitbekommen, was mir sonst wahrscheinlich nicht aufgefallen wäre: Eltern kontrollieren ihre Kinder. Sie kontrollieren alles . Es fängt harmlos an mit Vorschlägen, welche Dinge sie tun und welche Spiele sie spielen könnten. Als ob Kindern das nicht von selbst einfallen würde. Gefolgt von Anweisungen, was sie besser nicht tun, und wo sie auf gar keinen Fall hingehen dürfen. »Keinen Sand auf die Schuhe, Schatzi!« »Die Rutsche ist aber noch zu hoch für dich.« »Nicht in den Wald laufen, ist das klar?« Wie hoch sie klettern dürfen. Welches Bein zuerst kommt. Was man in der Sandkiste macht. Ernsthaft, ich habe ambitionierte Eltern gesehen, die den eigenen Kindern die Schaufel wegnehmen, um ihnen zu zeigen, wie ein »richtiger« Sandkuchen geht. Am Ende der Skala standen dann die Vorwürfe, Drohungen und Verbote, die mir als erwachsenem Mann noch in den Ohren wehtun. »Jetzt habe ich es dir schon fünf Mal gesagt.« »Wenn du damit nicht aufhörst, gehen wir sofort heim!« »Morgen gibt es für dich keine Süßigkeiten.«
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