»Mein berühmter, weißer Bruder ist erzürnt über mich. Ich weiß, daß jeder Häuptling stolz darauf sein würde, bei ihm sein zu können, und ich bin doch nichts als ein Wurm, eine Kröte, welche nicht beachtet wird; aber ich lechze darnach, einen Namen zu erhalten und unter die Zahl der Krieger aufgenommen zu werden, und ich weiß, daß ich in der Nähe Old Shatterhands am schnellsten einen Namen finden würde. Ist er darüber ergrimmt, so jage er mich fort; ich werde gehen!«
Da reichte ich ihm meine Hand hinüber und antwortete:
»Wie könnte ich mich über einen solchen kleinen Mann ergrimmen! Du gefällst mir, und dein Vater wird sich freuen, wenn er hört, daß ich dich bei mir behalten habe. Ich willige also ein; du kannst mir nützlich sein. Es ist kein Mensch so gering, daß er dem andern nicht einen großen Dienst erweisen könnte, und wenn es auch nur aus reinem Zufalle wäre. Vieles von dem, was du über Winnetou und mich gehört hast, konnte nur mit Hilfe von Leuten ausgeführt werden, welche unbekannt waren. Von uns erzählt man, von ihnen nicht. Möge deine Hoffnung, bei mir bald zu einem Namen zu kommen, sich erfüllen! Die Vorbedingungen scheinen dazu vorhanden zu sein.«
Es läßt sich denken, welche Freude er empfand, als er die Gewährung seines Wunsches vernahm. Er sagte kein Wort; sein Bruder ließ ein beglückwünschendes »Uff!« hören, und seine Schwester schlug als Zeichen der Freude ihre Hände zusammen. Ich fuhr fort:
»Aber werden, wenn du nicht bei ihnen bist, deine Geschwister euern Stamm glücklich und sicher erreichen? Es kommt sehr viel, vielleicht alles, darauf an, daß ihnen unterwegs kein Unfall begegnet.«
Da antwortete der jüngere Bruder in bescheidenem, aber dennoch zuversichtlichem Tone:
»Es kann uns nichts geschehen, denn ich habe ja nun ein Gewehr und fürchte mich also vor keinem Menschen. Auch weiß ich, daß zwischen hier und unserm Ziele kein Feind zu finden ist.«
Wir trafen jetzt wieder auf den Bach und befanden uns also an der Stelle, an welcher der Mormone uns geraten hatte, zu lagern. Es fiel uns natürlich nicht ein, dies zu thun.
Wir hielten gar nicht an und ritten weiter. Da ich meine Beobachtungen in südlicher Gegend zu machen hatte, so wollte ich jetzt nicht allzuweit nördlich gehen, konnte jedoch jetzt noch nicht zurückbleiben, weil ich mich soweit von der Hazienda entfernen mußte, bis ich sicher war, daß man meine Spur nicht mehr finden werde. Darum ging der Ritt bis nach Mitternacht fort, wo wir uns in einer Gegend befanden, welche für meine Zwecke gar nicht geeigneter sein konnte.
Der Mond war aufgegangen und gewährte uns einen weiten Umblick. Der Boden war felsig; die Pferde ließen also keine Spuren zurück. Am nördlichen Horizonte lag eine dunkle Linie. Als wir uns derselben näherten, sah ich, daß es ein Wald war. Unweit des Randes desselben ragte die Krone eines mächtigen Baumes hoch über alle andern hervor.
»Uff!« sagte der ältere Bruder. »Da sind wir wieder in bekannter Gegend. Das ist der Wald der großen Lebenseiche. Jetzt weiß mein jüngerer Bruder genau, wie er zu reiten hat, und kann sich unmöglich irren.«
»Gut!« antwortete ich. »So trennen wir uns hier. Und diese Lebenseiche mag der Ort des Wiedersehens sein. In sechs Tagen bin ich wieder hier, um die Ankunft eures Vaters und seiner Krieger zu erwarten.«
Ich erteilte dem kleinen Bruder die nötige Instruktion. Besonders genau beschrieb ich ihm die Stelle, an welcher Winnetou mich erwartete. Schließlich gab ich ihm die Waffen, welche ich dem Mormonen abgenommen hatte; er sollte sie seinem Vater als Geschenk überbringen. Der kleine Mann versicherte, daß er mit seiner Schwester bis zum Anbruche des nächsten Abends reiten werde, ohne anzuhalten. Er wollte versuchen, die Strecke in zwei anstatt in drei Tagen zurückzulegen.
Die Geschwister hatten sich vor ihrer Verabschiedung von den Opata mit Dürrfleisch versehen; jetzt wurde der Proviant geteilt. Das war mir sehr lieb, denn ich bekam da für zwei Tage und zwei Personen zu essen und brauchte also während dieser Zeit kein Fleisch zu schießen. Ich hatte ja mit dem Umstande zu rechnen, daß ein Schuß mich verraten könne.
Als dann der Bruder mit der Schwester fortgeritten war, banden wir unsere Pferde am Waldesrande fest und legten uns nieder, um bis zum Anbruche des Morgens zu schlafen. Die Ruhe war uns notwendig, da wir nicht sagen konnten, ob wir morgen abend Schlaf finden würden, und hier waren wir voraussichtlich so sicher vor jeder Ueberraschung, daß keiner von uns zu wachen brauchte. Uebrigens mußten wir auch deshalb den Tagesanbruch hier erwarten, weil wir dann weit sehen und uns orientieren konnten, während ein nächtlicher Ritt uns leicht vor eine plötzliche feindliche Begegnung gebracht hätte.
Nach unserm Erwachen am Morgen standen wir vor einer zweifachen Aufgabe. Erstens galt es, die Yumas aufzusuchen, und das konnte am besten am hellen Tage geschehen. Zweitens wollte ich die Hazienda beschleichen, um nach den Auswanderern zu sehen und möglicherweise mit dem Herkules zu sprechen. Dazu mußte ich natürlich den Abend abwarten.
Zur Erreichung unseres ersten Zweckes beschloß ich, die Stelle aufzusuchen, an welcher der Yumahäuptling die drei Geschwister überfallen hatte. Er war, wie bereits gesagt, jedenfalls dorthin zurückgekehrt, und ich hoffte, da Spuren zu finden, die mir andeuteten, wohin er sich gewendet hatte.
Wir ritten natürlich nicht in gerader Richtung, welche uns über die Hazienda geführt hätte, zurück, sondern machten einen Umweg, auf welchem wir keiner Begegnung auszuweichen brauchten, denn es begegnete uns eben keine Menschenseele. Es war Mittag, als wir im Thale ankamen. Je mehr wir uns der betreffenden Stelle näherten, desto vorsichtiger verhielten wir uns. Die drei Pferdeleichen lagen noch da. Eine ganze Menge Geier war damit beschäftigt, das Fleisch von den Knochen zu reißen und sich um die Fetzen zu streiten. Ich blieb, scharf auslugend und das Gewehr schußbereit haltend, unten bei den Pferden und schickte den Knaben hinauf zur Felsenhöhe, wo der Sohn des Häuptlings von meinen beiden Kugeln getroffen worden war. Er meldete mir bei seiner Rückkehr, daß die Leiche zur Seite geschafft und mit einem hohen Steinhaufen bedeckt worden sei. Fußspuren hatte er in dem harten, felsigen Boden nicht bemerkt.
Eine Fährte hatte ich da oben natürlich gar nicht erwartet. Mit Pferden konnte man nicht hinauf, und da der Häuptling jedenfalls zu Pferde gekommen war, so hatte er dasselbe unten im Thale gelassen, war zur Leiche seines Sohnes hinauf-, dann wieder herabgestiegen und hatte das Thal zu Pferde verlassen. Ob jemand bei ihm gewesen war, das mußte sich erst zeigen. Ich begann also, zu suchen; der Knabe half dabei.
Leider war der Boden hart, sodaß ausgesprochene Fußoder Hufeindrücke nicht vorhanden sein konnten. Einige kleine Zeichen, wie z.B. Abschürfungen einer Bodenstelle, oder ein aus seiner früheren Lage gerissenes Steinchen, waren zwar als Spuren zu nehmen, konnten aber auch von uns selbst, da wir gestern hier gewesen waren, herrühren. Der Indianer strengte seine Augen an. Er wäre sehr stolz darauf gewesen, wenn er auch nur die Andeutung einer Fährte hätte entdecken können. Es war vergeblich; darum rief er
endlich unmutig aus:
»Sie sind hier gewesen; das ist sicher. Und doch ist nichts zu sehen. Meine Augen sind heut wie mit Blindheit geschlagen. Old Shatterhand mag ja nicht denken, daß dies stets der Fall ist!«
»Tröste dich mit dem Umstande, daß die Augen Old Shatterhands, die doch geübter sind als die deinigen, auch nichts zu entdecken vermögen,« antwortete ich. »Aber es giebt zweierlei Augen, diejenigen des Körpers und diejenigen des Geistes, der Seele. Wenn die einen mit Blindheit geschlagen sind, muß man die andern um so offener halten.«
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