Nun galt es, bis zum Morgen zu warten. Ich hatte einige Posten in die Schlucht vorgeschoben; die andern lagerten draußen vor derselben. Meiner Weisung gemäß verhielten sie sich vollständig ruhig. Es war nichts als nur zuweilen das Schnauben eines Pferdes zu hören.
Die Zeit verging; der Mond war längst verschwunden, und die Sterne verloren ihren Glanz. Dann färbte sich der Osten mit einem leisen Scheine.
»Herr, sollen wir beten?« fragte mich der Kolarasi.
»Ja, aber natürlich ganz leise.«
Sie knieten alle nieder und verrichteten die vorgeschriebene Andacht. Darüber wurde der Schein heller und heller, bis er sich gelb färbte. Das konnte man im Innern der Schlucht nicht sehen; dennoch drang jetzt aus derselben der laute, wohltönende Ruf.
»Hai alas Sallah, hai alal felah; es Sallah cher min en nohm - auf zum Gebete, auf zum Heile; das Gebet ist besser als der Schlaf!«
Es war so hell geworden, daß wir sehen konnten. Ich huschte rasch in die Schlucht hinein und ging so weit, als ich gehen konnte, ohne befürchten zu müssen, bemerkt zu werden. Schon gestern hatte ich gesehen, daß der Paß keine Krümmung machte, sondern fast schnurgerade verlief; ich konnte sie nahezu völlig überblicken.
Gar nicht weit von mir befanden sich die Pferde, eine große Menge. Hinter denselben lagen die gefangenen Soldaten; sie waren nicht gefesselt und wurden von ungefähr zwanzig bewaffneten Uled Ayar bewacht. Dann kam ein freier Raum, hinter welchem das eigentliche Lager begann. Alle Menschen, welche ich dort erblickte, knieten betend an der Erde, die Gefangenen mit ihren Wächtern auch. Ich eilte zurück und holte mir dreißig Mann.
»Seid ganz still,« gebot ich ihnen. »Sagt kein Wort. Je weniger Lärm wir machen, desto größer ist die Ueberraschung und desto eher werden wir fertig sein. Es sind zwanzig Wächter da. Schießt nicht, sondern haut sie mit den Kolben nieder! Dann geht es schnell wieder zurück.«
Es ging mit raschen Schritten in die Schlucht hinein. Die Stimme des Vorbeters wechselte mit dem Chore der Nachbetenden ab. Da kamen wir zu den Pferden. Wir rannten um dieselben herum und zwischen ihnen hindurch und warfen uns mit hochgeschwungenen Kolben auf die
Wächter. Sie waren vor Schreck ohne Bewegung. Hieb fiel auf Hieb. Zwei oder drei rafften sich doch auf und rannten schreiend davon; die andern wurden niedergeschlagen.
»Auf, ihr Männer!« rief ich den Gefangenen zu. »Ihr seid frei. Eilt zu den Pferden; nehmt deren so viel ihr könnt bei den Zügeln und kommt mit ihnen hinaus, wo eure Befreier warten!«
Sie folgten diesem Rufe. Sie sprangen auf und zu den Pferden. Jeder warf sich auf den Rücken eines derselben und nahm ein anderes oder gar zwei bei den Zügeln; ein kurzes Drängen durcheinander, und dann trieb alles dem hintern Ausgange zu. Vom Lager her aber erschollen Rufe des Zornes, des Schreckens; es fiel keinem ein, weiter zu beten. Jeder ergriff seine Waffen und kam schreiend nach hinten gerannt. Aber die Befreiten waren mit den so schnell annektierten Pferden schon hinaus ins Freie; sie hatten keine Waffen und mußten also zunächst zurück. Mit den andern ging ich vor. Wir füllten in vielen Gliedern hintereinander die ganze Breite des Passes und gaben eine blinde Salve. Da wichen die Heranstürmenden zurück, oder sie blieben wenigstens stehen und schrieen einander unter den lebhaftesten Gestikulationen an. Ihr Schreck war so groß, daß sie zunächst nicht wußten, was sie thun sollten. Dann ertönte die Stimme des Scheiks. Er brachte Ordnung in das Gewirr, wenigstens notdürftig, und dann sahen wir, daß sich die Uled Ayar vorn nach dem Eingange drängten. Da krachten ihnen auch Schüsse entgegen, und von beiden Seiten oben herab blitzte es auch. Ein einziges großes Wut- oder Wehegeheul der Ayar erfüllte den Engpaß; sie gingen auch da vorn zurück und drängten sich in der Mitte der Schlucht zusammen. Da sandte ich einen Lieutenant zu ihnen. Er war schon vorher instruiert und schwang ein Tuch zum Zeichen, daß er als Unterhändler komme. Ich ließ durch ihn den Scheik bitten, zu mir zu kommen und gab ihm das Versprechen, daß er, sobald es ihm beliebe, zu den Seinen zurückkehren könne. Doch sollte er seinen Uled Ayar den Befehl geben, daß sie sich bis zu seiner Rückkehr jeder Feindseligkeit zu enthalten hätten.
Ich sah den Boten im Gedränge der Feinde verschwinden. Es dauerte wohl zehn Minuten; dann öffnete sich die Menge, und er erschien wieder; an seiner Seite kam der Scheik geschritten. Er hatte also das Vertrauen zu mir, daß ich mein Versprechen halten würde. Als er näher gekommen war, ging ich ihm der Höflichkeit halber eine kleine Strecke entgegen, legte beide Hände auf die Brust, verbeugte mich und sagte:
»Sei willkommen, o Scheik der Uled Ayar! Du wolltest mich gestern, als ich dein Gefangener war, nicht zu dir sprechen lassen. Darum bin ich aus deinem Lager gegangen, um dich jetzt als freier Mann zu bitten, heute mit mir zu reden.«
Er verbeugte sich ebenfalls und antwortete:
»Ich grüße dich! Du hast mir freies Geleit geboten und wirst dein Versprechen halten?«
»Ja. Du kannst gehen, sobald du willst, denn ich bringe dir den Frieden.« »Dafür willst du Steuern!«
»Nein.«
»Nicht?« fragte er erstaunt. »Seid ihr nicht deshalb als Feinde zu uns gekommen, um uns das, was uns von unsern Herden übriggeblieben ist, vollends zu nehmen?«
»Ihr habt Mohammed es Sadok Pascha versprochen, die Kopfsteuer zu zahlen, aber nicht Wort gehalten. Es ist sein Recht, das, was ihr ihm verweigert, mit Gewalt zu nehmen; ihr werdet also zahlen müssen; aber ich bin nicht dein Feind, sondern dein Freund und will dir sagen, wie du die Steuer bezahlen kannst, ohne daß du ein einziges Haar eurer Herden anzurühren und wegzugeben brauchst.«
»Allah ist groß und barmherzig! Wenn deine Worte wahr sind, so bist du allerdings mein Freund und nicht ein Feind von uns!«
»Ich habe die Wahrheit gesprochen. Habe die Güte, dich zu mir zu setzen, so wirst du hören, welchen Vorschlag ich dir zu machen habe.«
»Deine Rede duftet wie Balsam. Die Erde, auf welcher du sitzest, soll auch meinen Gliedern Ruhe geben.«
Es wurden zwei Gebetsteppiche nebeneinander gelegt; er setzte sich auf den einen, ich mich auf den andern. Der Beduine überstürzt nichts. Unsere Würde erforderte, zunächst eine Pause zu machen. Während derselben musterte ich die Schlucht mit allem, was sie enthielt; er aber verwendete kein Auge von mir und begann endlich:
»Der Herr der Heerscharen hat mir gestern von dir erzählt, Effendi. Ich habe erfahren, was du erlebt und gethan hast; aber er hat mir nicht gesagt, daß du auch ein Meister in der Zauberei bist.«
»Wieso?«
»Du lagst gefesselt und angebunden in deinem Zelte. Dein Wächter ist in dieser Nacht zwölfmal in demselben gewesen und hat dich und deine Fesseln betastet, um zu wissen, daß du noch vorhanden seiest. Nur ganz kurze Zeit vor dem Morgengebete war er zum letztenmale bei dir. Und jetzt sitzest du hier und redest zu mir als freier Mann! Ist das nicht Zauber?«
»Nein. Hat der Wächter denn gewußt, daß ich es war, den er bewachte?«
Dieser Zauber war sehr leicht zu erklären. Ich hatte Winnetou die Hände nicht fest zusammengebunden. Als er mein Zeichen hörte, hatte er die Fesseln abgestreift, sich vom Pfahle losgemacht und in seiner unvergleichlichen Weise aus dem Lager geschlichen. Jedenfalls befand er sich jetzt vorn am Eingange der Schlucht bei der ersten Schwadron. Da ich es nicht für nötig hielt, dem Scheik diese Erklärung mitzuteilen, ließ ich ihn bei seinem Wunderglauben und sagte:
»Du magst daraus ersehen, daß es besser gewesen wäre, - wenn du mir schon gestern dein Ohr gegönnt hättest. Ist jemand von euch von den Schüssen unserer Soldaten verwundet oder getötet worden?«
»Nein.«
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