»Daran erkenne ich dich, mein wackerer Junge,« antwortete er, »und ich danke dir für dein Anerbieten, dein Leben für uns aufs Spiel zu setzen. Aber deine Opferwilligkeit kann zu keinem Ziele führen. Es wäre Thorheit, sich im tiefen Polarwinter über ein Eisfeld zu wagen, die hundert Meilen zurücklegen zu wollen, welche die Kotelnii-Insel vom Festlande trennen! Du würdest unterwegs umkommen, mein armer Junge! Nein, meine Freunde, trennen wir uns nicht! und wenn es uns auf die eine oder andere Weise gelingen soll, die Liakhoff-Inseln zu verlassen, so verlassen wir dieselben alle zusammen!«
»Das ist wohl gesprochen,« sagte Herr Cascabel; »und Jean muß mir sein Wort geben, daß er nichts ohne meine Erlaubnis unternehmen wird.«
»Ich verspreche dir's, Vater.«
»Und wenn ich sage, daß wir alle zusammen gehen werden,« fuhr Herr Sergius fort, indem er sich zu Ortik wandte, »so meine ich damit, daß auch Sie und Kirschef uns begleiten sollen. Wir werden Sie nicht in den Händen der Eingeborenen zurücklassen.«
»Ich danke Ihnen, Herr Sergius,« erwiderte Ortik; »und Kirschef und ich werden uns auf der Reise durch Sibirien nützlich zu machen wissen. In diesem Augenblick ist nichts zu thun. Aber es ist von Wichtigkeit, daß wir uns bereit halten, vor dem Eisbruch, sobald die große Kälte nachläßt, zu fliehen.«
Mit diesen Worten zog Ortik sich zurück.
»Ja,« bemerkte Herr Sergius, »wir müssen uns bereit halten.«
»Wir werden bereit sein,« erklärte Herr Cascabel. »Wie wir's anfangen werden?. Hol mich der Henker, wenn ich's weiß!«
In der That, die Frage, wie man sich mit oder ohne seine Einwilligung von Tschu-Tschuk verabschieden solle, beschäftigte alle und bildete sozusagen das Tagesgespräch. Die Wachsamkeit der Eingeborenen zu täuschen, würde zum mindesten sehr schwer fallen! Auf eine Umstimmung Tschu-Tschuks war kaum zu rechnen! Es gab also nur einen Ausweg: »ihn dranzukriegen«, wie Herr Cascabel zwanzigmal des Tages sagte.
Ja! das war es, worauf er sann! Aber er mochte sich lange »den Kopf zerbrechen«, wie einer seiner Lieblingsausdrücke lautete; der Januar ging zu Ende und er hatte es noch immer zu keinem Einfall gebracht!
VII. Ein gelungener Streich des Herrn Cascabel
Der Februar ist in diesen Breiten so kalt, daß das Quecksilber im Thermometer gefriert. Freilich ist man noch weit von den Temperaturverhältnissen der intrastellarischen Räume entfernt, von jenen zweihundertdreiundsiebzig Grad unter Null, welche die unbeweglich gemachten Moleküle der Körper in einen Zustand absoluter Festigkeit versetzen. Und dennoch hätte man glauben können, daß die Luftmoleküle nicht mehr durcheinander glitten, daß die Atmosphäre erstarrt sei. Die eingeatmete Luft brannte wie Feuer. Das Sinken der Thermometersäule war so bedeutend, daß die Inwohner der Belle-Roulotte sich entschließen mußten, dieselbe nicht mehr zu verlassen. Der Himmel war außerordentlich rein; die Gestirne glänzten so unvergleichlich klar, daß man wähnen mochte, der Blick erreiche die äußersten Tiefen des Himmelsgewölbes. Was das Tageslicht betrifft, so war es selbst um die Mittagsstunde bloß ein fahles Gemisch von Morgen-und Abenddämmerung.
Trotzdem zögerten die Eingeborenen aus alter Gewohnheit nicht, diesen klimatischen Umständen zu trotzen. Aber welche Vorsichtsmaßregeln sie ergriffen, um ihre Füße, ihre Hände, ihre Nase vor plötzlichem Erfrieren zu schützen! Den Körper in Renntierfell gehüllt, den Kopf unter der Pelzmütze verborgen, zeigten sie nichts von ihrer Persönlichkeit, sondern gingen wie wandelnde Pelzbündel umher. Und weshalb wagten sie sich so aus ihren Wohnungen hervor?
Weil Tschu-Tschuk es befahl. Mußte man sich doch vergewissern, ob die Gefangenen, die ihm ihren täglichen Besuch nicht mehr abstatten konnten, nicht etwa das Weite gesucht hätten. Überflüssige Vorsicht bei solcher Witterung!
»Schönen guten Abend, Amphibiengesindel!« rief ihnen Herr Cascabel von innen zu, als er sie durch die kleinen Fenster erblickte, die er auf der Innenseite vom Eise befreit hatte. »Diese Tiere müssen Seehundsblut in den Adern haben!. Sie gehen bei einer Kälte umher, bei der ehrliche Leute in fünf Minuten erfrieren würden!«
In den hermetisch verschlossenen Abteilungen der Belle-Roulotte erhielt die Temperatur sich indessen auf einer erträglichen Höhe. Die Wärme des Küchenofens, den man mit fossilem Holze heizte - wodurch man den Petroleumvorrat zu schonen vermochte - teilte sich sämtlichen Kammern mit, so daß man dieselben sogar von Zeit zu Zeit lüften mußte. Aber wenn die äußere Thür geöffnet wurde, gefror alles Flüssige augenblicklich. Der Unterschied zwischen der inneren und äußeren Atmosphäre betrug nicht weniger als vierzig Grad, -was Herr Sergius konstatiert haben würde, wenn die Thermometer nicht von den Eingeborenen geraubt worden wären.
Gegen Ende der zweiten Februarwoche zeigte die Temperatur eine schwache Tendenz zu steigen. Da der Wind sich nach Süden gedreht hatte, begannen die Schneestürme von neuem mit unvergleichlicher Wut über Neusibirien hinzurasen. Wäre die Belle-Roulotte nicht von hohen Felsblöcken geschützt und bis über die Räder im Schnee vergraben gewesen, sie hätte den Windstößen keinen Widerstand zu leisten vermocht; so aber gab sie keinen Anlaß zu Besorgnissen hinsichtlich ihrer Sicherheit.
Zwar stellten sich noch einige heftige Fröste ein, welche die Atmosphäre jählings herabdrückten; aber gegen die Mitte des
Monats sank sie im Durchschnitt nicht mehr über zwanzig Grad unter Null herab.
So wagten Herr Sergius, Herr Cascabel, Jean, Xander und Clou-de-Girofle sich denn wieder ins Freie, indem sie die sorgfältigsten Vorsichtsmaßregeln ergriffen, damit der Übergang nicht allzu brutal erscheine. Vom hygieinischen Standpunkt aus betrachtet war dies die allergrößte Gefahr, der sie sich aussetzen konnten.
Die Umgebung des Lagers war gänzlich unter dem einförmigen weißen Teppich verschwunden; es war unmöglich, die Unebenheiten des Erdbodens zu unterscheiden. Und daran war nicht etwa die Dunkelheit Schuld; denn zwei Stunden des Tages hindurch färbte der südliche Horizont sich mit einem fahlen Schimmer, einem Widerscheine glutloser Strahlen, der mit dem Nahen der Frühlings-Nachtgleiche immer stärker werden würde. Man konnte also einige Spaziergänge unternehmen und sah sich vor allem durch Tschu-Tschuks Aufforderung veranlaßt, in der Wohnung dieses Herrschers vorzusprechen.
Man fand den starrsinnigen Häuptling in unveränderter Stimmung. Er riet den Gefangenen sogar, unverzüglich ein Lösegeld von dreitausend Rubeln herbeizuschaffen; sonst werde er wissen, was er zu thun habe.
»Abscheulicher Lump!«. antwortete ihm Herr Cascabel in jenem reinen Französisch, das Seine Majestät nicht verstand. »Jawohl!. Dreifacher Dummkopf!. Vierfacher Tölpel!. König der Idioten!.«
Allerdings förderten diese Bezeichnungen, die so gut auf den Beherrscher der Liakhossgruppe paßten, die Dinge nicht sonderlich. Die Sache wurde sogar bedenklich, da Tschu-Tschuk mit Gewaltmaßregeln drohte.
Da, unter dem Einflusse konzentrierter Wut, kam Herrn Cascabel eine geniale Inspiration, - was von einem so außerordentlich scharfsinnigen Manne gewiß nicht überraschen wird.
»Bei allen Seehunden!« rief er eines schönen Morgens, »wenn diese Posse, diese köstliche Posse gelänge!. Und warum nicht?. solchen Trotteln gegenüber!«
Obgleich ihm dieser Ausruf entschlüpft war, glaubte Herr Cascabel sein Geheimnis bewahren zu sollen. Er mochte es niemand mitteilen - nicht einmal Herrn Sergius, nicht einmal Cornelia.
Indessen schien die Fertigkeit in der russischen Sprache, deren sich sämtliche Völkerschaften Nordsibiriens bedienen, eine unerläßliche Bedingung für den Erfolg seines Planes zu bilden. Und zwar in dem Grade, daß, während Kayette sich unter der Leitung ihres Freundes Jean in das Studium der französischen Sprache vertiefte, Herr Cascabel sich unter der Leitung seines Freundes Sergius in der russischen zu vervollkommnen beschloß. Und hätte er einen hingebenderen Lehrmeister finden können?
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