Vivars momentane Reglosigkeit war ein Hinweis auf den Stolz, der ihn bewegte und ebenso in Wut umschlagen konnte wie Sharpes üble Laune. Die Hure wich zurück, da sie mit Gewalttätigkeiten rechnete, doch als Vivar sich wieder bewegte, geschah es nur, um über den Tisch zu greifen und Sharpes Weinflasche zu nehmen. Seine Stimme klang sehr beherrscht und sehr besonnen.
»Sie haben mir einmal erzählt, Lieutenant, dass niemand von Offizieren, die aus den Mannschaftsrängen des britischen Heeres aufgestiegen sind, Erfolge erwartet. Was haben Sie noch gesagt? Dass die Trunksucht sie zerstört?« Er verstummte, aber Sharpe antwortete nicht. »Ich glaube, Sie könnten ein Soldat von hohem Ansehen werden, Lieutenant. Sie verstehen es zu kämpfen. Sie werden ruhig, wenn andere sich ängstigen. Ihre Männer sind Ihnen gefolgt, selbst als sie Sie gehasst haben, weil Sie ihnen zum Sieg verhelfen konnten. Sie sind ein guter Mann. Aber vielleicht sind Sie nicht gut genug. Vielleicht stecken Sie so voller Selbstmitleid, dass Sie sich durch Trunksucht zugrunde richten werden, oder ...«, Vivar ließ sich endlich herab, die junge Frau mit dem strähnigen Haar zu beachten, die dem Schützen am Hals hing, »... durch die Pocken.«
Während dieses Vortrags hatte Sharpe den Spanier angestarrt, als hätte er am liebsten seinen Degen gezückt und über den Tisch auf ihn eingeschlagen.
Vivar stand auf, hielt die Weinflasche schräg und goss den Inhalt auf den mit Schilfmatten bedeckten Boden. Dann ließ er sie verächtlich fallen.
»Bastard«, sagte Sharpe.
»Heißt das, ich bin so gut wie Sie?« Wieder hielt Vivar inne, um Sharpes Antwort abzuwarten, und wieder blieb Sharpe stumm. Der Spanier zuckte mit den Schultern. »Sie tun sich selbst leid, Lieutenant, weil Sie nicht in die Offiziersschicht hineingeboren wurden. Aber haben Sie sich je überlegt, dass jene unter uns, die das Glück hatten, es manchmal bedauern könnten? Glauben Sie, wir hätten keine Angst vor den zähen, mürrischen Männern aus den einfachen Hütten? Glauben Sie, wir würden nicht andere Männer ansehen und dabei Neid empfinden?«
»Sie überheblicher Bastard.«
Vivar ignorierte die Beschimpfung. »Als meine Frau und meine Kinder starben, Lieutenant, war ich der Meinung, es gebe nichts, wofür es sich zu leben lohnt. Ich habe mich der Trunksucht hingegeben. Nun danke ich Gott, dass damals einem Mann so viel an mir gelegen hat, dass er mir seinen überheblichen Rat zukommen ließ.« Er nahm seinen mit Quasten geschmückten Hut. »Sollte ich Ihnen Grund gegeben haben, mich zu hassen, Lieutenant, bedaure ich das. Es ist nicht mit Absicht geschehen. Immerhin haben Sie mir zu verstehen gegeben, dass keine Erbitterung zwischen uns aufkommen könne.« Näher ging Vivar nicht auf Louisa ein. »Nun bitte ich Sie nur, mir bei der Vollendung dieser Aufgabe zu helfen. Im Westen der Stadt befindet sich ein Hügel, der besetzt werden muss. Ich werde Davila und einhundert Cazadores Ihrem Kommando unterstellen. Die Wachtposten im Süden und Westen habe ich verstärkt. Und ich danke Ihnen für alles, was Sie bisher getan haben. Wenn Sie nicht die erste Barrikade genommen hätten, müssten wir jetzt durch die Berge fliehen, während die Dragoner mit ihren Säbeln auf uns einschlagen.« Vivar trat einen Schritt zurück. »Sagen Sie mir Bescheid, wenn Ihre Verteidigung steht, damit ich sie inspizieren kann.« Er wartete nicht auf Bestätigung, sondern verließ mit großen Schritten die Weinstube.
Sharpe hob den immer noch vollen Becher an. Er starrte darauf. Er hatte seinen eigenen Männern Strafe angedroht, wenn sie sich betranken, doch nun wünschte er sich sehnlichst, seine Enttäuschung im Alkoholdunst ersäufen zu können. Er warf den Becher fort und stand auf. Die junge Frau, die sich ihrer Einnahmen beraubt sah, jammerte.
»Zur Hölle mit euch allen!«, fluchte Sharpe. Er riss zwei der verbliebenen Silberknöpfe von der Reithose, wobei sich ein großer Fetzen Tuch mit den Knöpfen löste, und warf sie der Frau in den Schoß. »Zur Hölle mit euch allen!« Er nahm seine Waffen an sich und ging.
Der Schankwirt warf der Hure, die sich anschickte, ihr Mieder zu schnüren, einen Blick zu und zuckte mitleidig mit den Schultern. »Diese Engländer, wie? Verrückt. Allesamt verrückt. Ketzer, Verrückte.« Er bekreuzigte sich gegen das heidnische Übel. »Wie alle Soldaten«, sagte der Wirt. »Einfach verrückt.«
Sharpe begab sich mit Sergeant Harper in den Westen der Stadt und zwang sich, sowohl Louisa zu vergessen als auch die Schande seines Benehmens in der Taverne. Er versuchte sich vorzustellen, wie die Franzosen beim Angriff von Santiago de Compostela vorgehen würden.
Die Dragoner waren nach Padron geritten, und die Straße in diese kleine Stadt lag südwestlich von Santiago. Damit war ein Angriff von Süden oder Westen her am wahrscheinlichsten. De l'Eclin konnte Vivar täuschen und von Norden her angreifen, aber Sharpe bezweifelte, dass der Jäger sich für diese Taktik entscheiden würde, die nur mit einem Überraschungseffekt verbunden aussichtsreich wäre. Im Osten der Stadt war das Gelände uneben und am leichtesten zu verteidigen. Das Land im Süden war mit Hecken und Gräben bestückt, während der Boden im Westen, von wo aus der Angriff nach Vivars Ansicht erfolgen würde, eben und einladend war wie ein englischer Gemeindeanger.
Das offene Gelände im Westen wurde nach Süden hin von einem Hügel begrenzt, den Vivar besetzt haben wollte und auf dem die Rifles nun Sharpes Befehle erwarteten. Die Franzosen hatten den strategischen Wert des Hügels erkannt. Sie hatten die meisten Bäume auf seiner Kuppe abgeholzt und zwischen den gefallenen Baumstämmen eine provisorische Befestigung aus Gestrüpp errichtet. Weiter westlich sank der Boden ab. Dort konnten sich de l'Eclins Dragoner ungesehen sammeln. Sharpe blieb am Rand dieser Senke stehen und blickte in Richtung Stadt. »Kann sein, dass wir diese verdammte Stadt halten müssen, bis es dunkel ist.«
Harper hielt instinktiv Ausschau nach dem Sonnenstand. »Das ist noch sechs Stunden hin«, sagte er pessimistisch, »und die Dämmerung wird sehr langsam einsetzen. Keine einzige verdammte Wolke, um uns zu verbergen.«
»Wenn Gott auf unserer Seite wäre«, versuchte sich Sharpe an einem der üblichen Witze des Regiments, »hätte er das Baker-Gewehr mit Brüsten ausgestattet.«
Harper, der an diesem missglückten Scherz erkannte, dass Sharpes mürrische Laune verflog, grinste pflichtschuldigst. »Stimmt es, was man von Miss Louisa hört, Sir?« Er stellte die Fragen nebenbei und ohne jegliche Verlegenheit, woraus Sharpe schloss, dass keiner seiner Männer geahnt hatte, wie sehr er an dem Mädchen hing.
»Es stimmt.« Sharpe versuchte so zu tun, als habe er wenig Interesse an der Sache. »Sie wird natürlich Katholikin werden müssen.«
»Davon kann es gar nicht genug geben. Allerdings ...«, Harper blickte zu Boden, während er weitersprach, »... war ich nie der Ansicht, dass es einem Soldaten gut tut, verheiratet zu sein.«
»Warum denn nicht?«
»Man kann nicht tanzen, wenn man mit einem Fuß am verdammten Boden festgenagelt ist, stimmt's? Aber der Major ist kein Soldat wie wir, Sir. Wo er doch aus dieser Burg stammt!« Harper war eindeutig beeindruckt vom Reichtum der Familie Vivar. »Der Major ist ein prachtvoller Bursche, wahrhaftig.«
»Und was sind wir? Die Verdammten?«
»Das sind wir, ganz sicher, aber obendrein sind wir Rifles, Sir. Sie und ich, Sir, wir sind die besten gottverdammten Soldaten auf der Welt.«
Sharpe lachte. Noch vor wenigen Wochen hatte er in bitterem Streit mit seinen Schützen gelegen, und jetzt waren sie auf seiner Seite. Er wusste nicht, wie er Harpers Kompliment erwidern sollte, daher griff er auf ein altbekanntes Klischee zurück. »Verkehrte Welt.«
»Schwer, innerhalb von sechs Tagen ganze Arbeit zu leisten, Sir«, sagte Harper verschmitzt. »Ich bin sicher, Gott hat sein Bestes gegeben, aber was ist ihm eingefallen, Irland direkt neben England zu setzen?«
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