Der Professor lachte. „Ich weiß es nicht“, sagte er schließlich.
„Aber ich weiß es!“ rief der Kleine Mann triumphierend. „Erstens bist du ein gewaltiger Zauberkünstler ...“
„Und zweitens?“
„Heb mich hoch, und ich sage dir’s ins Ohr!“
Der Professor hob den Kleinen Mann hoch.
„Zweitens“, flüsterte Mäxchen, „zweitens bist du der beste Mensch, den es gibt.“
Erst war es ein Weilchen still. Dann hustete der Professor verlegen und sagte: „So, so. Na ja, irgendeiner muß es schließlich sein.“
Mäxchen lachte leise. Doch gleich darauf seufzte er. „Weißt du, manchmal möchte ich genauso groß sein wie normale Leute. Zum Beispiel in dieser Minute.“
„Warum denn gerade jetzt? Hm?“
„Dann hätte ich richtig lange Arme und könnte sie um deinen Hals legen.“
„Mein lieber Junge“, sagte der Professor.
Und Mäxchen flüsterte: „Mein lieber, lieber Jokus.“
Dann brachte der Oberkellner endlich den Mokka mit zwei Löffeln. „Einen schönen Gruß von der Kaffeeköchin, und den kleinen Löffel schenkt sie dem Kleinen Mann. Es war der kleinste Löffel, den sie in der Küche auftreiben konnte.“
„Und warum kriege ich ihn geschenkt?“ fragte Mäxchen verwundert.
Der Oberkellner machte eine tiefe Verbeugung. „Zur bleibenden Erinnerung an den Tag, an dem du berühmt geworden
bist. Die Kaffeeköchin hat das heutige Datum mit einer Spicknadel im Löffel eingeritzt.“
„Mit der Spicknadel?“ fragte der Kleine Mann.
„Ganz recht“, erwiderte der Oberkellner. „Sie dient sonst zum Spicken von Hasen- und Rehrücken. Die Köchin fand nichts Spitzeres.“
„Vielen, vielen Dank“, sagte Mäxchen. „Und die Kaffeeköchin glaubt, ich bin jetzt berühmt?“
„Das denkt nicht nur die Kaffeeköchin!“ rief da eine Frauenstimme. Die übermütige Stimme gehörte dem Fräulein Rosa Marzipan. „Da bin ich!“ erklärte das Marzipanmädchen. „Draußen vorm Hotel lauern schon die ersten Journalisten und Fotografen und Onkels vom Rundfunk. Aber der Portier läßt sie nicht herein.“
„Sein Glück!“ knurrte der Professor. „Und wieso hat er dich hereingelassen?“
„Ich weiß es ganz genau!“ rief der Kleine Mann und rieb sich die Hände. „Sie hat ihn angesehen und mit den Augen geklimpert!“
„Erraten!“ sagte Fräulein Rosa. „Er schmolz wie Schokoladeneis auf der Zentralheizung. Die Putzfrau mußte kommen und den Rest wegwischen.“ Dann gab sie Mäxchen einen kleinen Kuß, weil er so klein war, und dem Jokus einen noch kleineren, weil er so groß war. „Und jetzt habe ich Appetit“, erklärte sie energisch.
„Auf einen Kuß von uns?“ fragte der Professor.
„Nein, auf Rehrücken“, antwortete sie. „Auf gespickten Rehrücken mit Kartoffelkroketten und Preiselbeeren. Und ihr dürft kosten.“
Da nahm der Oberkellner die Beine unter den Arm.
Nach dem Essen sagte sie: „So ist das Leben, meine Herren
Freunde. Mir hat es geschmeckt, ihr seid berühmt, und Meister Galoppinski braucht eine neue Reitpeitsche.“
„Warum denn?“ fragte Mäxchen wißbegierig.
„Weil die alte in Stücke ging“, berichtete das Fräulein. „Sie kam einige Minuten mit dem Clown Fernando in Tuchfühlung. Das war für die arme Peitsche zuviel. Für Fernando übrigens auch.“
„Wegen der vertauschten Fräcke?“
Rosa nickte. „Ganz recht. Dabei wollte der Clown ja gar nicht den Reiter und das Pferd blamieren, sondern einen gewissen Jokus.“
„Den Jokus?“ Der Kleine Mann war perplex.
„Fernando ist eifersüchtig. Weil er glaubt, der Jokus sei in mich verliebt.“
„Das stimmt doch auch!“ rief Mäxchen.
Da wurde der Zauberkünstler rot wie eine Blutapfelsine und hätte sich, wenn er’s gekonnt hätte, auf der Stelle fortgehext. Oder in eine Zahnbürste verwandelt. Doch das können nur ganz echte Zauberer.
Fräulein Rosa Marzipan blickte ihn mit funkelnden Augen an. „Ist das wahr?“ fragte sie und stand langsam auf. „Ist das wahr?“ wiederholte sie drohend.
„Jawohl“, bemerkte der Jokus finster und betrachtete seine Schuhspitzen, als habe er sie noch nie gesehen.
„Ich könnte dir die Ohren abreißen“, schimpfte sie. „Warum hast du mir das nicht gesagt, du Schurke? Warum bist du nicht längst vor mir in die Knie gesunken, du Elender? Warum hast du mich nicht angefleht, dir mein Marzipanherz zu schenken, du Faultier?“

Der Professor sagte: „Ich werde dir gleich die Hosen straffziehen!“
Da warf sie die Arme hoch und rief begeistert: „Endlich! Das erste liebe Wort!“ Dann fiel sie ihm um den Hals, daß die Teller klirrten.
Mäxchen rieb sich wieder einmal die Hände.
Nach fünf Minuten flüsterte Rosa Marzipan: „Schade um jeden Tag, den ich’s nicht wußte! Wir haben viel Zeit verloren.“
„Mach dir nichts draus“, sagte der Jokus. „Du bist ja noch jung.“
„Freilich“, meinte sie. „Und Marzipan hält sich lange frisch.“
Nach weiteren fünf Minuten hüstelte jemand neben ihnen. Es war der Oberkellner. „Einen schönen Gruß von Mäxchen.“ „Wo ist er denn?“ riefen beide wie aus einem Munde. Sie wurden vor Schreck weiß wie das Tischtuch.
„Oben im Zimmer. Ich mußte ihn im Lift hinaufbringen. Er sitzt im Blumentopf auf dem Balkon und sei sehr vergnügt, läßt er ausrichten.“
„Schrecklich“, murmelte der Professor, als der Oberkellner gegangen war. „Wir haben überhaupt nichts gemerkt. Ich bin ein Rabenvater.“
„Höchste Zeit, daß jemand auf euch beide aufpaßt!“ erklärte sie. „Ist der Posten noch frei? Ich wüßte wen.“
„Hoffentlich ist es niemand, der auf dem Trampolin herumhüpft“, sagte er.
Sie lächelte. „Ich habe nicht die Absicht, mein Leben lang in der Luft Purzelbäume zu schlagen. Ich bewerbe mich um den Posten, Herr Professor.“
„Sie sind engagiert“, gab er zur Antwort.

Mäxchen im Maiglöckchentopf / Frau Holzer muß ein paarmal niesen / Beim Facharzt für Unzufriedene / Der Kleine Mann wächst und wird ein Riese / Er sieht sich im Spiegel / Der zweite Zaubertrank / Ein völlig normaler Knabe.
Inzwischen saß also der Kleine Mann auf dem Balkon in einem Blumentopf. Es war ein Topf aus weißem Steingut. Der Hotelgärtner hatte am Morgen zwanzig Maiglöckchen eingepflanzt, weil er wußte, daß sie Mäxchens Lieblingsblumen waren.
„Gibt es ein Gedicht über den Maiglöckchenduft?“ hatte der Junge früher einmal gefragt. Aber weder der Jokus noch der Gärtner kannten eines.
„Wahrscheinlich wäre es so schwierig wie der vierfache Salto“, hatte Jokus vermutet.
„Den vierfachen Salto gibt’s doch gar nicht!“ hatte der Kleine Mann gerufen.
„Eben“, hatte der Jokus geantwortet. „Das ist es ja.“
Nun saß der Kleine Mann, wie gesagt, im Blumentopf, lehnte an einem der zartgrünen Stengel, blickte in die weißen Maiglöckchenwipfel empor, schnupperte den sogar für Dichter unbeschreiblichen Duft und dachte über das Leben nach. Man tut das manchmal. Auch als gesunder Junge. Auch als Kleiner Mann.
Er dachte an seine Eltern und den Eiffelturm, an den Jokus und Fräulein Marzipan, an die vertauschten Fräcke und den Clown Fernando, an Galoppinskis zerbrochene Peitsche und Herrn Magers Hosenträger, an den lauten Zirkus und die leisen Maiglöckchen und . und . und . Und dann schlief er ein und träumte.
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