Mit fünf bis zehn Kamelen zählte eine Familie noch zu den Armen, 30 bis 40 zeichneten den gehobenen Mittelstand aus. Wer mehr als 60 Tiere sein eigen nannte, galt als reich. Ein Scheich besaß ein paar hundert Kamele. Nach außen hin sah man kaum einen Unterschied zwischen einem armen Fellachen und einem reichen Scheich. Jeder trug das gleiche schlichte lange Gewand, aß nicht mehr und nicht besser als der andere; kam aber ein Fremder und nahm die Gastfreund Schaft in Anspruch, so wurden Standesunterschiede schnell deutlich. Dann warfen sich Ehefrauen und Töchter des Scheichs in kostbar bestickte Kleider, und gespeicherte Vorrate brachten die niedrigen Tische fast zum Biegen. Düfte von ungesäuertem Fladenbrot, über einer Glut aus Kameldüng gebacken und mit triefender Butter bestrichen, zogen durch das Haus. Den Gast erwartete ein am offenen Feuer gegrilltes Lamm, dessen Innereien separat in Kamelmilch gedünstet und in einer sauer geronnenen Soße serviert wurden, in die man Brocken des Fladenbrotes eintauchte. Als besonders vornehm galt es, statt Fladenbrot Reis zu reichen, der im möglichst viel zerlassener Butter schwamm. Butter war im Gegensatz zu Fleisch keineswegs Luxus. Die Frauen stellten sie täglich frisch her, indem sie die Schaf- oder Ziegenmilch frühmorgens nach dem Melken in Schläuche aus Ziegenleder gössen und zwei Stunden in der Luft herumwirbelten, Auch Auads Frau tat dies.
Er spuckte auf den Boden. Nein, mit den Abd er-Rassuls wolle er, Auad, nichts zu tun haben. Brugsch nickte verständnisvoll, trotzdem notierte er in sein Kopienbuch den Namen Achmed Abd er-Rassul. Vielleicht, dachte er, sollte man diesem Abd er-Rassul doch einmal hundert Piaster zukommen lassen. Er konnte sich tausehen, aber manchmal wurde er den Verdacht nicht los, die Fellachen verrichteten gegen den üblichen Lohn zwar alle Arbeiten, die man ihnen auftrug, sie buddelten und wühlten den lieben langen Tag. Aber mitunter kam es ihm so vor, als wühlten sie zielsicher an interessanten Dingen vorbei. Später wurden dann »zufällig« Grabeingänge oder Schätze an den Stellen gefunden, die Brugsch bereits untersucht hatte. War es Zufall, daß sich in letzter Zeit solche Funde häuften, die Aga Ayat den Fellachen für gutes Geld abkaufte?
Das Geschrei des alten Auad klang aufgeregt und beinahe wie eine Kriegsmeldung: »Effendi, die Engländer kommen!« Heinrich Brugsch trat vor die Tür, wo Auad nach Luft rang und mit beiden Armen ins Tal deutete. Zwei Männer in Knik-kerbockern mit Tropenhelm auf dem Kopf, gefolgt von einem Trupp Fellachen mit Grabungswerkzeugen, marschierten geradewegs auf el-Kurna zu. »Wer ist das?« erkundigte sich Brugsch. »Engländer, Effendi! Sie haben beinahe hundert Arbeiter angeworben, sie zahlen gut. Aber Auad bleibt dir treu, Ef-fendi.«
Brugsch verfolgte von seinem erhöhten Standort, wie die beiden Engländer ihren Ausgräbertrupp in fünf Gruppen aufteilten. Sie gestikulierten wild und zeigten in alle vier Himmelsrichtungen, schließlich setzte sich eine Gruppe in Richtung Assasif in Bewegung, eine zweite westlich nach Kurnet Murai, eine dritte marschierte nach Dra abu el-Naga und die vierte schien über die Felsen ins Tal der Könige zu wollen, während der verbleibende Rest mit dem Anführer an der Spitze geradewegs auf el-Kurna und Brugschs Behausung zuging.
»Komm«, sagte Brugsch, setzte seinen Sonnenhut auf den Kopf und zog Auad mit sich den steilen Trampelpfad hinab. Am Ortseingang von el-Kurna, dort, wo der felsige Hügel in eine flache Landschaft übergeht, trafen sie aufeinander: Heinrich Brugsch und Alexander Rhind. Brugsch war erregt. Erfragte den Fremden, mit welchem Recht er das ganze Tal in Beschlag nehme. Doch der Brite konfrontierte ihn gelassen mit einem Firman des Kairoer Außenministeriums - eine Grabungslizenz für ganz Ägypten. Er sei Alexander Rhind, kein Engländer, sondern Schotte, Rechtsanwalt, eigentlich aus Gesundheitsgründen hier, die Lunge, Sie verstehen, aber warum solle man nicht das Notwendige mit dem Interessanten verbinden. »Und was hat Sie hierher verschlagen?« Brugsch, dem sein Auftritt peinlich war, wurde verlegen. Er erklärte, er sei ein preußischer Forscher und beschäftige sich schon seit ein paar Jahren mit der Übersetzung von Inschriften, besitze aber keine Grabungslizenz, er habe auch kein Geld, so viele Arbeitskräfte zu bezahlen. Der Schotte, gerade zwanzigjährig, zeigte sich begeistert, einen Schriftgelehrten in seiner Nähe zu wissen, man würde sich sicher gut verstehen. Er stellte Mr. Wenham vor, seinen Assistenten, und Ali, seinen Diener, und erzählte, daß er so lange auf seinem Schiff wohnen wolle, bis sein Quartier errichtet sei, das Haus, in dem schon Sir Gardiner Wilkinson und Henry Salt gewohnt hätten, ob er es kenne. Natürlich kenne er es, erwiderte Brugsch und zeigte auf einen aus rötlichen Nilschlammziegeln errichteten, mit einer hohen Mauer umgebenen Komplex. Richard Lepsius habe während der preußischen Expedition vor zehn Jahren ebenfalls dort logiert. Es gehöre der Regierung. »Man hat es mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt«, sagte der Schotte.
Heinrich Brugsch saß an diesem Abend allein in seinem Grab vor einer Kerze und brütete über Hieroglyphen und demotischen Abschriften; aber so recht konzentrieren konnte er sich nicht; er fühlte sich allein gelassen. Wie sollte er, Dr. Heinrich Brugsch aus Berlin, mit 1500 Thalern Jahressalär, von dem auch noch eine Frau in der Heimat leben mußte, die Geschichte des Pharaonenreiches wiederentdek-ken?
Argwöhnisch verfolgte er täglich die Bemühungen des Schotten, und er war nicht gerade traurig, daß sie trotz des großen Aufwandes erfolglos zu verlaufen schienen - sieben Wochen lang jedenfalls. Dann aber kam Bewegung in die Grabungen am Fuße des Dorfes. Spuren künstlicher Bearbeitung im Felsengestein hatten Alexander Rhind zu einem vermauerten unterirdischen Steinportal geführt, das mit dem Namensring Amenophis' III. versiegelt war. Rhinds Assistent stemmte ein meterdickes Loch in das Ge-maüer. Kerzen wurden gebracht. Rhind schickte Wenham voraus, reichte zwei brennende Lichter durch die Öffnung, dann schwang er sich selbst durch das Loch. Ein langer finsterer mannshoher Korridor tat sich auf, schmucklos, ohne Reliefs oder Malereien an den Wänden, aber mitten im Gang Stand ein vielbeiniger Totenbaldachin aus Holz, eine Art Tisch mit aufstülpbarem Gehäuse - offenbar zur Aufbewahrung von Toten. Der Tisch war leer, und Rhind und Wen-ham drückten sich daran vorbei, an die Wand gelehnt entdeckten sie zwei meterhohe Krüge und dazwischen eine kleine Figurengruppe, ein knieendes Paar. Über Knochen, Steinbrocken und allerlei Gerumpel arbeiteten sich die beiden 20 Meter weiter vor, bis ihnen eine schwere Holztüre den Weg versperrte. Rhind warf sich erfolglos dagegen. Und da es bereits Abend geworden war, beschlossen beide, ihre Untersuchung erst am nächsten Tag fortzusetzen.
Als Rhind und Wenham aus dem Mauerloch hervorkrochen, wurden sie mit Jubel begrüßt. Rhind versuchte, die Fellachen zu beschwichtigen, man wisse überhaupt noch nicht, ob größere Schätze zu erwarten seien. Aber die Leute waren nicht so schnell zu beruhigen. Von Mißtrauen geplagt, ließ Rhind die nubischen Matrosen von seinem Boot kommen und teilte eine Nachtschicht ein. Er selbst fand in dieser Nacht keinen Schlaf und kontrollierte zweimal die Wachmannschaften.
Kurz nach Sonnenaufgang stiegen Alexander Rhind und sein Assistent erneut in das Grab. Das Aufbrechen der Tür bereitete keine Schwierigkeiten, dahinter führte der Gang steil nach unten. Hinter einer Seitenkammer, die ein Bild der Verwüstung bot, wurden die beiden von einem senkrechten Schacht aufgehalten. Rhind versuchte, mit einer Kerze hinabzuleuchten, doch er konnte nichts erkennen; deshalb forderte er von draußen einen Balken und ein Seil an. Damit sollte Wenham sich abseilen. Das Manöver gelang: Sieben Meter tief landete der Assistent im zentimetertiefen Staub. »Was sehen Sie, Wenham?« rief Rhind von oben und lauschte in die Tiefe. »Vier Gänge, nach allen vier Seiten!« »Wo führen sie hin?«
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