Unsere Barke war der erste angenehme Gegenstand, den wir erblickten. Sie lag ohngefähr zweihundert Klafter weit von dem Orte, wo sie gesunken war. Nachdem wir nun alles, was uns nötig und nützlich war, an der Sonne getrocknet hatten, so versahen wir uns mit den Notwendigkeiten aus unserm Schiffsvorrat und machten uns auf, unsere verlorne Straße wieder zu gewinnen. Nach der genauesten Berechnung fand sich, dass wir an die hundertundfunfzig Meilen weit über Gartenwände und mancherlei Gehege hinweggetrieben waren. In sieben Tagen erreichten wir den Fluß, der nun wieder in seinem Bette strömte, und erzählten unser Abenteuer einem Bei. [142] Bei m = Herr m (türkischer Titel, oft hinter Namen, z. B. Ali-Bei)
Liebreich half dieser allen unsern Bedürfnissen ab und sendete uns in einer von seinen eigenen Barken weiter. In ohngefähr sechs Tagen langten wir zu Alexandrien an, allwo wir uns nach Konstantinopel einschifften. Ich wurde von dem Großherrn überaus gnädig empfangen und hatte die Ehre, seinen Harem zu sehen, wo seine Hoheit selbst mich hineinzuführen und so viele Damen, selbst die Weiber nicht ausgenommen, anzubieten geruhten, als ich mir nur immer zu meinem Vergnügen auslesen wollte.
Mit meinen Liebesabenteuern pflege ich nie großzutun, daher wünsche ich Ihnen, meine Herren, jetzt insgesamt eine angenehme Ruhe.
Nach Endigung der ägyptischen Reisegeschichte wollte der Baron aufbrechen und zu Bette gehen, gerade als die erschlaffende Aufmerksamkeit jedes Zuhörers bei Erwähnung des großherrlichen Harems in neue Spannung geriet. Sie hätten gar zu gern noch etwas von dem Harem gehört. Da aber der Baron sich durchaus nicht darauf einlassen und gleichwohl der mit Bitten auf ihn losstürmenden muntern Zuhörerschaft nicht alles abschlagen wollte, so gab er noch einige Stückchen seiner merkwürdigen Dienerschaft zum besten und fuhr in seiner Erzählung also fort:
Bei dem Großsultan galt ich seit meiner ägyptischen Reise alles in allem. Seine Hoheit konnten gar ohne mich nicht leben und baten mich jeden Mittag und Abend bei sich zum Essen. Ich muss bekennen, meine Herren, dass der türkische Kaiser unter allen Potentaten [143] Potentat m (bildungsspr. abwertend) = Machthaber; Herrscher m
auf Erden den delikatesten Tisch führet. Jedoch ist dies nur von den Speisen, nicht aber von dem Getränke zu verstehen, da, wie Sie wissen werden, Mohameds Gesetz seinen Anhängern den Wein verbietet. Auf ein gutes Glas Wein muss man also an öffentlichen türkischen Tafeln Verzicht tun. Was indessen gleich nicht öffentlich geschieht, das geschieht doch nicht selten heimlich; und des Verbots ungeachtet weiß mancher Türk so gut als der beste deutsche Prälat, [144] Prälat m – geistlicher Würdenträger
wie ein gutes Glas Wein schmeckt. Das war nun auch der Fall mit Seiner türkischen Hoheit. Bei der öffentlichen Tafel, an welcher gewöhnlich der türkische Generalsuperintendent, [145] Generalsuperintendent m (ev. Kirche) – dem Bischof od. Prälaten rangmäßig entsprechender leitender Geistlicher einer Landeskirche
nämlich der Mufti, [146] Mufti m – islamischer Rechtsgelehrter
in partem salarii mitspeisete und vor Tische das Aller Augen – nach Tische aber das Gratias beten [147] Gratias n [nach dem Anfang des Gebetes, lat. gratias agamus Deo = lasst uns Gott danken] (kath. Kirche) – [klösterliches] Dankgebet nach Tisch
musste, wurde des Weines auch nicht mit einer einzigen Silbe gedacht. Nach aufgehobener Tafel aber wartete auf Seine Hoheit gemeiniglich ein gutes Fläschchen im Kabinette. Einst gab der Großsultan mir einen verstohlenen freundlichen Wink, ihm in sein Kabinett zu folgen. Als wir uns nun daselbst eingeschlossen hatten, holte er aus einem Schränkchen eine Flasche hervor und sprach:»Münchhausen, ich weiß, ihr Christen versteht euch auf [148] verstehen + sich + auf Akk = mit etw. Bescheid wissen, etw. gut kennen und damit gut umzugehen wissen
ein gutes Glas Wein. Da habe ich noch ein einziges Fläschchen Tokaier. [149] Tokaier, Tokajer m [nach der ungarischen Stadt Tokaj ] – süßer, aus Ungarn stammender Dessertwein von hellbrauner Farbe
So delikat müßt Ihr ihn in Eurem Leben nicht getrunken haben. «Hierauf schenkten Seine Hoheit sowohl mir als sich eins ein und stießen mit mir an. – »Nun, was sagt Ihr? Gelt! es ist was Extrafeines?«—»Das Weinchen ist gut, Ihro Hoheit, «erwiderte ich;»allein mit Ihrem Wohlnehmen muss ich doch sagen, dass ich ihn in Wien beim hochseligen Kaiser Karl dem Sechsten weit besser getrunken habe. Potz [150] potz – in bestimmten Fügungen, die sich auf das Leiden Jesu Christi beziehen
Stern! den sollten Ihro Hoheit einmal versuchen.«—»Freund Münchhausen, Euer Wort in Ehren! Allein es ist unmöglich, dass irgendein Tokaier besser sei. Denn ich bekam einst nur dies eine Fläschchen von einem ungarischen Kavalier, und er tat ganz verzweifelt rar damit.«—»Possen, Ihro Hoheit! Tokaier und Tokaier ist ein großmächtiger Unterschied. Die Herren Ungarn überschenken sich eben nicht. Was gilt die Wette, so schaffe ich Ihnen in Zeit einer Stunde geradesweges und unmittelbar aus dem Kaiserlichen Keller eine Flasche Tokaier, die aus ganz andern Augen sehen soll.«—»Münchhausen, ich glaube, Ihr faselt.«—»Ich fasele nicht. Geradesweges aus dem Kaiserlichen Keller in Wien schaffe ich Ihnen in Zeit von einer Stunde eine Flasche Tokaier von einer ganz andern Nummer als dieser Krätzer [151] Krätzer m (abwertend) = [im Hals kratzender] saurer Wein
hier.«—»Münchhausen, Münchhausen! Ihr wollt mich zum besten haben, und das verbitte ich mir. [152] ich verbitte mir das! – я этого не потерплю!
Ich kenne Euch zwar sonst als einen überaus wahrhaften Mann, allein – jetzt sollte ich doch fast denken, Ihr flunkertet.«—»Ei nun, Ihro Hoheit! Es kommt ja auf die Probe an. Erfülle ich nicht mein Wort – denn von allen Aufschneidereien bin ich der abgesagteste Feind-, so lassen Ihro Hoheit mir den Kopf abschlagen. Allein mein Kopf ist kein Pappenstiel. [153] kein Pappenstiel sein (ugs.) = keine Kleinigkeit sein
Was setzen Sie mir dagegen?«—»Topp! [154] topp [aus der niederd. Rechtsspr., Bez. des (Hand)schlags (bei Rechtsgeschäften)] (veraltend) – Ausruf der Bekräftigung nach einer vorausgegangenen [mit einem Handschlag besiegelten] Abmachung o.Ä. = einverstanden!
Ich halte Euch beim Worte. Ist auf den Schlag vier nicht die Flasche Tokaier hier, so kostets Euch ohne Barmherzigkeit den Kopf. Denn foppen lasse ich mich auch von meinen besten Freunden nicht. Besteht Ihr aber, wie Ihr versprecht, so könnet Ihr aus meiner Schatzkammer so viel an Gold, Silber, Perlen und Edelgesteinen nehmen, als der stärkste Kerl davonzuschleppen vermag.»
«Das läßt sich hören!«antwortete ich, bat mir gleich Feder und Tinte aus und schrieb an die Kaiserin-Königin Maria Theresia [155] Maria Theresia (1717–80) – Gemahlin des Kaisers Franz I, Erzherzogin von Österreich, Prinzessin von Sachsen, Königin von Ungarn und Böhmen (1740–80)
folgendes Billett: [156] Billett n (veraltet) = Zettel m , kurzes Briefchen
»Ihre Majestät haben ohnstreitig als Universalerbin [157] Universalerbe m = Erbe des gesamten Nachlasses; Allein-, Gesamterbe
auch Ihres Höchstseligen Herrn Vaters Keller mitgeerbt. Dürfte ich mir wohl durch Vorzeigern dieses eine Flasche von dem Tokaier ausbitten, wie ich ihn bei Ihrem Herrn Vater oft getrunken habe? Allein von dem besten! Denn es gilt eine Wette. Ich diene gern dafür wieder, wo ich kann, und beharre übrigens usw.»
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