1 ...6 7 8 10 11 12 ...37 Ich legte mich früh ins Bett: ich wusste, ich würde um Mitternacht aufwachen. Und wirklich: ich erwachte um die gleiche Stunde wie gestern. Auf dem Radiumzifferblatt der Uhr deckten sich die beiden Zeiger in einem leuchtenden Strich. Hastig stieg ich aus der schwülen Kabine in die noch schwülere Nacht. Die Sterne strahlten wie gestern und schütteten ein diffuses Licht über das zitternde Schiff, hoch oben flammte das Kreuz des Südens. Alles war wie gestern.
Er saß also dort. Unwillkürlich schreckte ich zurück und blieb stehen. Im nächsten Augenblick wäre ich gegangen. Da regte es sich drüben im Dunkel, etwas stand auf, tat zwei Schritte, und plötzlich hörte ich knapp vor mir seine Stimme, höflich und gedrückt.
„Verzeihen Sie“, sagte er, „Sie wollen offenbar wieder an Ihren Platz, und ich habe das Gefühl, Sie flüchteten zurück, als Sie mich sahen. Bitte, setzen Sie sich nur hin, ich gehe schon wieder“. Ich eilte, ihm meinerseits zu sagen, dass er nur bleiben solle, ich sei bloß zurückgetreten, um ihn nicht zu stören. „Mich stören Sie nicht“, sagte er mit einer gewissen Bitterkeit, „im Gegenteil, ich bin froh, einmal nicht allein zu sein. Seit zehn Tagen habe ich kein Wort gesprochen… eigentlich seit Jahren nicht… Ich kann nicht mehr in der Kabine sitzen, in diesem… diesem Sarg… ich kann nicht mehr… und die Menschen ertrage ich wieder nicht, weil sie den ganzen Tag lachen… Das kann ich nicht ertragen jetzt… ich höre es hinein bis in die Kabine und stopfe mir die Ohren zu… freilich, sie wissen eben nicht, was geht das die Fremden an…“
Er stockte wieder. Und sagte dann ganz plötzlich und hastig: „Aber ich will Sie nicht belästigen… verzeihen Sie meine Geschwätzigkeit [130].“
Er verbeugte sich und wollte fort. Aber ich widersprach ihm dringlich. „Sie belästigen mich durchaus nicht. Auch ich bin froh, hier ein paar stille Worte zu haben… Nehmen Sie eine Zigarette?“ Er nahm eine. Ich zündete an. Wieder riss sich das Gesicht flackernd vom schwarzen Bordrand los, aber jetzt voll mir zugewandt: die Augen hinter der Brille forschten [131]in mein Gesicht. Ein Grauen überlief mich. Ich spürte, dass dieser Mensch sprechen wollte, sprechen musste. Und ich wusste, dass ich schweigen müsse, um ihm zu helfen.
Wir setzten uns wieder. Er hatte einen zweiten Deckchair dort, den er mir anbot. Unsere Zigaretten funkelten, und an der Art, wie der Lichtring, der seinen unruhig im Dunkel zitterte, sah ich, dass seine Hand bebte [132]. Aber ich schwieg, und er schwieg. Dann fragte plötzlich seine Stimme leise: „Sind Sie sehr müde?“
„Nein, durchaus nicht.“ Die Stimme aus dem Dunkel zögerte wieder. „Ich möchte Sie gerne um etwas fragen… das heißt, ich möchte Ihnen etwas erzählen. Ich weiß, ich weiß genau, wie absurd das ist, mich an den ersten zu wenden, der mir begegnet, aber… ich bin… ich bin in einer furchtbaren psychischen Verfassung… ich bin an einem Punkt, wo ich unbedingt mit jemandem sprechen muss… ich gehe sonst zugrunde… Sie werden das schon verstehen, wenn ich… ja, wenn ich Ihnen eben erzähle… Ich weiß, dass Sie mir nicht werden helfen können… aber ich bin irgendwie krank von diesem Schweigen… und ein Kranker ist immer lächerlich für die andern…“
Ich unterbrach ihn und bat ihn, sich doch nicht zu quälen. Er möge mir nur erzählen… ich könne ihm natürlich nichts versprechen, aber man habe doch die Pflicht, seine Bereitwilligkeit anzubieten. Wenn man jemanden in einer Bedrängnis [133]sehe, da ergebe sich doch natürlich die Pflicht zu helfen… „Die Pflicht… seine Bereitwilligkeit anzubieten… die Pflicht, den Versuch zu machen… Sie meinen also auch, Sie auch, man habe die Pflicht… die Pflicht, seine Bereitwilligkeit anzubieten.“ Dreimal wiederholte er den Satz. War dieser Mensch wahnsinnig? War er betrunken?
Aber als ob ich die Vermutung laut mit den Lippen ausgesprochen hätte, sagte er plötzlich mit einer ganz andern Stimme: „Sie werden mich vielleicht für irr halten oder für betrunken. Nein, das bin ich nicht – noch nicht. Nur das Wort, das Sie sagten, hat mich so merkwürdig berührt… so merkwürdig, weil es gerade das ist, was mich jetzt quält, nämlich ob man die Pflicht hat… die Pflicht…“ Er begann wieder zu stottern. Dann brach er kurz ab und begann mit einem neuen Ruck.
„Ich bin nämlich Arzt. Und da gibt es oft solche Fälle, solche verhängnisvolle [134]… ja, sagen wir Grenzfälle, wo man nicht weiß, ob man die Pflicht hat… nämlich, es gibt ja nicht nur eine Pflicht, die gegen den andern, sondern eine für sich selbst und eine für den Staat und eine für die Wissenschaft… Man soll helfen, natürlich, dazu ist man doch da… aber solche Maximen sind immer nur theoretisch… Wie weit soll man denn helfen?… Da sind Sie, ein fremder Mensch, und ich bin Ihnen fremd, und ich bitte Sie, zu schweigen darüber, dass Sie mich gesehen haben… gut, Sie schweigen, Sie erfüllen diese Pflicht… Ich bitte Sie, mit mir zu sprechen, weil ich krepiere [135]an meinem Schweigen… Sie sind bereit, mir zuzuhören… gut… Aber das ist ja leicht… Wenn ich Sie aber bitten würde, mich zu packen und über Bord zu werfen… da hört sich doch die Hilfsbereitschaft auf. Irgendwo endet doch… dort, wo man anfängt mit seinem eigenen Leben, seiner eigenen Verantwortung… irgendwo muss es doch enden… irgendwo muss diese Pflicht doch aufhören… Oder vielleicht soll sie gerade beim Arzt nicht aufhören dürfen? Muss der ein Heiland [136]sein, bloß weil er ein Diplom in lateinischen Worten hat, muss der wirklich sein Leben hinwerfen und sich Wasser ins Blut schütten, wenn irgendeine… irgendeiner kommt und will, dass er edel sei, hilfreich und gut? Ja, irgendwo hört die Pflicht auf… dort, wo man nicht mehr kann, gerade dort…“ Er hielt wieder inne und riss sich auf.
„Verzeihen Sie… ich rede gleich so erregt… aber ich bin nicht betrunken… noch nicht betrunken… auch das kommt jetzt oft bei mir vor, ich gestehe es Ihnen ruhig ein, in dieser höllischen Einsamkeit… Bedenken Sie, ich habe sieben Jahre fast nur zwischen Eingeborenen [137]und Tieren gelebt… da verlernt man das ruhige Reden…. Aber warten Sie… ja, ich weiß schon… ich wollte Sie fragen, wollte Ihnen so einen Fall vorlegen, ob man die Pflicht habe zu helfen… so ganz engelhaft rein zu helfen, ob man… Übrigens ich fürchte, es wird lang werden. Sind Sie wirklich nicht müde?“
„Nein, durchaus nicht.“
„Also… ich möchte Ihnen einen Fall erzählen. Nehmen Sie an, ein Arzt in einer… einer kleineren Stadt… oder eigentlich am Lande… ein Arzt, der… ein Arzt, der…“ Er stockte wieder. Dann riss er sich plötzlich den Sessel heran zu mir. „So geht es nicht. Ich muss Ihnen alles direkt erzählen, von Anfang an, sonst verstehen Sie es nicht… Das, das lässt sich nicht als Exempel, als Theorie entwickeln… ich muss Ihnen meinen Fall erzählen. Da gibt es keine Scham, kein Verstecken… vor mir ziehen sich auch die Leute nackt aus und zeigen mir ihren Grind [138], wenn man geholfen haben will, darf man nicht herumreden und nichts verschweigen… Also ich werde Ihnen keinen Fall erzählen von einem sagenhaften [139]Arzt… ich ziehe mich nackt aus und sage: ich… das Schämen habe ich verlernt in dieser dreckigen Einsamkeit, in diesem verfluchten Land, das Mark [140]aus den Lenden saugt.“
Ich musste irgendeine Bewegung gemacht haben, denn er unterbrach sich.
„Ach, Sie protestieren… ich verstehe, Sie sind begeistert von Indien, von den Tempeln und den Palmenbäumen, von der ganzen Romantik einer Zweimonatsreise. Ja, so sind sie zauberhaft, die Tropen, wenn man sie in der Eisenbahn, im Auto durchstreift: ich habe das auch nicht anders gefühlt, als ich zum ersten Mal herüber kam vor sieben Jahren. Was träumte ich da nicht alles, die Sprachen wollte ich lernen und die heiligen Bücher im Urtext lesen, die Krankheiten studieren, wissenschaftlich arbeiten, die Psyche der Eingeborenen ergründen – so sagt man ja im europäischen Jargon – ein Missionar der Menschlichkeit, der Zivilisation werden. Aber in diesem unsichtbaren Glashaus dort geht einem die Kraft aus, das Fieber greift einem ans Mark, man wird schlapp und faul, wird weich, wie eine Qualle. Irgendwie ist man als Europäer von seinem wahren Wesen abgeschnitten, wenn man aus den großen Städten weg in so eine verfluchte Sumpfstation [141]kommt.
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