„Gut, also keine bekannten Feinde“, sagte Shelley, nickte ermutigend, obwohl die Antwort sie frustrierte. Es war immer besser, wenn man wusste, wohin man sich als Nächstes wenden konnte. „Während seiner ganzen Karriere, meinen Sie? Er hatte nie irgendwelche Probleme?“
Mrs. Henderson schniefte, zuckte mit den Schultern. „Nun, es gab immer kleine Dinge“, sagte sie, obwohl ihr Ton zeigte, dass sie der Meinung war, dass es unmöglich von Bedeutung sein konnte. „Er war ein Professor. Es gab Studenten, die mit ihrer Benotung nicht einverstanden waren. Oder jene, die rausflogen, weil sie die Vorlesungen nicht besucht oder ihre Arbeiten zu spät eingereicht hatten. Sie denken alle, sie würden eine Sonderbehandlung verdienen. Aber das ist normal. Einfach Teil des Jobs. Niemand würde jemanden wegen einer Benotung umbringen, oder?“
Shelley konnte erkennen, dass Mrs. Henderson diese Frage ernst meinte, nach Beruhigung suchte. Leider wusste Shelley, dass sie ihr diese nicht geben konnte. Die Leute töteten aus allen möglichen Gründen. Es stand nicht immer Vernunft dahinter. Manchmal war es einfach der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, zusätzlich zu allem anderen.
Vielleicht war es ein Gedanke, dessen Verfolgung sich lohnte. Reiches Kind mit Anspruchsdenken, das im Leben immer alles erhält, versagt nun zum ersten Mal? Bekommt einen durch Gewöhnung an Privilegien hervorgerufenen Wutanfall? Oder ein Student, der am Ende war, nichts mehr hatte, wofür es sich zu leben lohnte – Eltern kürzlich verstorben, Freundin hat mit ihm Schluss gemacht, hat seinen Teilzeitjob verloren und nun noch dazu eine schlechte Note? Man könnte es zumindest in Betracht ziehen.
„Hoffen wir, dass es nicht so ist“, bot sie mit einem leichten Lächeln, das ihr Mitgefühl vermitteln sollte, an. „Können Sie sich an etwas Ungewöhnliches erinnern, das in den letzten Tagen oder Wochen – sogar Monaten – geschehen ist?“
Mrs. Henderson schüttelte ihren Kopf, betupfte erneut ihre Augen. „Ich habe immer wieder darüber nachgedacht. Alles war einfach – normal. Deshalb war es so ein Schock. Völlig unerwartet. Ich wüsste nicht, warum irgendjemand meinem Ralph überhaupt wehtun wollen sollte.“
Die Frau wurde zunehmend verzweifelter. Vielleicht wäre es angemessen, die Befragung zu beenden, sie in Ruhe zu lassen. „Gibt es etwas anderes, das Sie uns sagen können – irgendetwas? Es mag nicht einmal relevant erscheinen, aber jede kleine Information stellt ein weiteres Puzzlestück dar.“
Mrs. Henderson schüttelte hilflos den Kopf.
„Gut, eine letzte Frage. Erinnern Sie sich, ob Ihr Ehemann je über einen Studenten namens Cole Davidson gesprochen hat?“
„Nicht, bis sein Name in den Zeitungen stand“, sagte Mrs. Henderson. „Dieser arme Junge. Glauben Sie … glauben Sie, dass die Fälle zusammenhängen? Das tun sie sicher, nicht wahr? Zwei Morde innerhalb einer so kurzen Zeitspanne?“
„Es ist nicht hilfreich für uns, zu diesem Zeitpunkt zu spekulieren.“ Shelley nahm einen letzten Schluck von ihrem Kaffee, bedauerte es, eine halbe Tasse dieses sehr guten Kaffees stehenlassen zu müssen. „Aber wir werden uns melden, wenn wir Ihnen mehr sagen können.“
Shelley stand auf, zögerte dann, als Zoe es ihr gleichtat. „Mrs. Henderson, haben Sie jemanden, der Ihnen heute Gesellschaft leisten kann?“
Sie nickte langsam, stand auf, um sie zur Tür zu begleiten. „Meine Tochter fliegt her. Sie sollte bis heute Abend hier sein.“
Das erleichterte Shelley. Eine Frau mit ihrer Trauer alleine zu lassen, fühlte sich nie richtig an, ganz gleich wie viele Angehörigenbefragungen sie machte. „Wir melden uns dann, Mrs. Henderson. Versuchen Sie, in der Zwischenzeit ein wenig Ruhe zu finden.“
Sie stiegen wieder ins Auto ein, Zoe zog sofort ihr Notizbuch hervor, um erneut hineinzuschreiben. Shelley fragte sich, ob sie überhaupt ein Wort der Befragung gehört oder diese sofort als nutzlos abgetan und die ganze Zeit über Zahlen nachgedacht hatte.
Was auch immer es war, Shelley konnte sich nicht darüber ärgern. Momentan waren die Gleichungen die einzigen richtigen Hinweise, die sie hatten. Während sie zurück zum Hauptquartier fuhren, konnte Shelley nicht anders, als sich Sorgen zu machen, dass sie nichts Weiteres von Nutzen finden würden, das den Fall knacken würde. Da Zoe so auf die Zahlen fixiert war, lag es an Shelley, etwas anderes zu finden, das einen Unterschied machen würde.
Das Problem war, herauszufinden, wo sie suchen sollte.
Zoe ärgerte sich über jeden Moment, den sie vergeudeten, als sie vom Parkplatz durch das Gebäude zu dem Zimmer, das sie für ihre Ermittlung übernommen hatten, gingen. Fast fünfhundert Schritte Entfernung, die sie mit Arbeit verbracht haben könnten. So schön es war, an etwas zu arbeiten, das, wie Shelley es ausgedrückt hatte, in ihrem eigenen Hinterhof geschehen war, Zoe wurde bereits gereizt. Die Gleichungen weigerten sich, ihr Geheimnis preiszugeben, blieben vage und schleierhaft.
Sobald sie den Tisch erreichte setzte Zoe sich hin und nahm ihre Notizen wieder auf, versuchte, sich durch jedes Element der Gleichung des Professors zu arbeiten, Stück für Stück. Seine war immerhin diejenige, die sie persönlich gesehen hatten, die, von der sie sicher sein konnten, dass sie komplett war.
„Ich sehe mir sein Fakultätsmailkonto an“, verkündete Shelley, ließ ihre Tasche auf einen Stuhl fallen und holte ihr Telefon heraus.
„Ist das notwendig?“ fragte Zoe, zog die Nase kraus. Es hatte keinen Sinn, einem solchen Hinweis nachzurennen. Die Antwort lag in den Gleichungen, nicht im Privatleben des Professors. So musste es sein. Es gab keine Verbindung zwischen Cole Davidson und diesem Englischprofessor, nicht ohne die Gleichungen.
„Ich bin nicht gut in Mathe, also kann ich dir nicht dabei helfen, diese Zahlen durchzugehen“, erklärte Shelley. „Etwas, das Mrs. Henderson sagte, ließ mich aufhorchen. Es könnte durchaus etwas mit einem Studenten zu tun haben. Jemand, der sich irgendwie ungerecht behandelt fühlte. Es ist möglich, dass es viele Leute gibt, die sowohl Cole wie auch Professor Henderson vom Campus kannten.“
Zoe zögerte, ihre Einwände lagen ihr auf der Zunge. Sie war der Meinung, dass es Zeitverschwendung wäre, sich durch die E-Mails eines toten Mannes zu wühlen. Aber was machte es? Shelley hatte recht – sie konnte bei den Gleichungen nicht helfen. Und vielleicht war es an der Zeit, dass Zoe ihr zutraute, Dinge auf ihre eigene Art zu untersuchen.
Vielleicht wäre es auch gut für Zoe, wenn dieser Fall sich durch eine verärgerte Email lösen ließ anstatt durch die Zahlen. Nachdem Shelley ihre Vorgesetzten darauf hingewiesen hatte, dass Zoe gut in Mathe war, lag Zoe nicht unbedingt viel daran, es zu beweisen. Es wäre tatsächlich besser, wenn sie es als fehlgeleitete Überzeugung ihrer Partnerin darstellen konnte.
Aber natürlich nicht, wenn es den Fall gefährdete. Den Mörder aufzuhalten war immer noch das Wichtigste.
Zoe widmete ihre Aufmerksamkeit wieder den Gleichungen, während Shelley die Universität anrief, um den benötigten Zugang zu bekommen. Allerdings war sie so weit gekommen, wie es ihr möglich war – mit beiden. Es gab natürlich immer noch die Möglichkeit, dass etwas auf der Leiche des Studenten übersehen worden war, aber sie hatten den Professor selbst überprüft.
Was übersah sie also?
Es gab natürlich eine weitere Möglichkeit: dass ihre Kenntnisse einfach nicht fortgeschritten genug waren, um sie zu lösen. Es war ein Unterschied, ob man in der Lage war, Zahlen – Entfernungen, Dimensionen, Winkel – zu sehen oder Gleichungen der Quantenmathematik zu lösen. Es bedurfte weiterer Fähigkeiten, Fähigkeiten, die andere Leute über ihr ganzes Leben hinweg entwickelten. Zoe hatte vielleicht ein Talent, aber sie hatte es der Verfolgung von Mördern gewidmet, nicht Mathematikstudien.
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