Vielleicht würde Mrs. Henderson Licht auf den Tod ihres Ehemanns werfen können – und dazu beitragen, dass dieser frustrierende Fall rasch geklärt wurde.
Shelley setzte sich auf den Fahrersitz, was bei ihren gemeinsamen Fahrten ungewöhnlich war. Shelley wusste, dass Zoe normalerweise als Beifahrerin übel wurde, aber an diesem Tag war sie so beschäftigt mit ihren Gleichungen, dass sie die vorbeirasenden Straßen kaum zu bemerken schien. Sie klammerte sich nicht einmal an ihren Sicherheitsgurt, das übliche Zeichen dafür, dass sie sich nicht wohl fühlte.
Shelley blickte herüber, wann immer sie die Möglichkeit hatte – beim Warten an Kreuzungen oder beim Stehenbleiben im dichten Verkehr. Was Zoe hektisch auf mehrere Seiten ihres Notizbuchs kritzelte, ergab für sie überhaupt keinen Sinn. Es hätten genauso gut Hieroglyphen sein können.
Zoe hatte ein wirkliches Talent, wenn es um Zahlen ging, aber das hatte auch andere Seiten. Eine zielstrebige Besessenheit konnte sie manchmal überkommen, wie jetzt. So sehr Shelley helfen wollte, sie hatte keine Ahnung, was gebraucht wurde – und Zoe würde es ihr nicht sagen. Sie war oft so. Ruhig, verschlossen. Shelley hatte die Geschichten über ihre vorherigen Partner gehört und es war nicht schwer, daraus abzuleiten, dass sie wahrscheinlich schon vor langer Zeit aufgegeben hatte, anderen ihre Gedanken anzuvertrauen.
Zoe war es gewohnt, alleine zu arbeiten. Wenn es nach ihr ginge, würde Shelley das ändern. Es würde nur eventuell eine lange Zeit dauern, bis sie ihr Ziel erreichte. In der Zwischenzeit würde sie sie ermutigen und daran erinnern müssen, ihre Gedanken mitzuteilen.
Nur vielleicht nicht hinsichtlich Mathematik. Shelley konnte ihr die alleinige Beschäftigung damit anvertrauen.
Der Englischprofessor lebte am anderen Ende der Stadt, in einem der eleganteren Vororte, weißgestrichene Häuser mit großzügigen Rasenflächen und passenden weißen Zäunen. Shelley hielt vor dem Haus an, stellte den Motor ab und wartete, dass Zoe es bemerkte.
Sie sah nicht einmal auf.
Es gab Zeiten, in denen Shelley das Gefühl hatte, sich in Zoes Gegenwart vorsichtig verhalten – sie mit der größten Behutsamkeit behandeln zu müssen. Mit Samthandschuhen. Was irgendwie ironisch war, wenn man bedachte, dass Shelley in ihrer Zeit zu Hause die ganze Zeit elterliche Pflichten erfüllte. Es gab mehr als einige Gelegenheiten, bei denen sie das Gefühl hatte, das Gleiche auf der Arbeit zu machen, auch wenn Zoe die Ältere von ihnen beiden war.
„Wir sind da“, sagte Shelley sanft, wollte Zoe nicht mitten aus ihren Berechnungen herausreißen.
Zoes Stift hielt mitten in der Bewegung inne und sie blickte endlich auf. Sie schien überrascht, irgendwo anders zu sein als auf dem Parkplatz der Gerichtsmedizin. „Ich muss nur noch …“
Shelley zog eine Augenbraue hoch. „Z, dauert es weniger als zwei Minuten? Denn wenn nicht, sollten wir losgehen und mit der Frau des Professors sprechen und dann zur Gleichung zurückkehren.“
Zoe seufzte hörbar, schien aber zuzustimmen. Sie packte ihr Notizbuch in eine Tasche und stieg aus dem Auto, was Shelley als Signal nahm, das Gleiche zu tun. Sie revidierte ihre frühere Überlegung: der Umgang mit Zoe war nicht genau wie der Umgang mit einem Kind. Eher manchmal wie der mit einem mürrischen Teenager.
Mrs. Henderson schien sie, oder zumindest irgendjemanden, erwartet zu haben. Sie war ordentlich in ein dunkles Kleid mit Blumenmuster gekleidet, die gedämpften Farben vermittelten ein wenig von dem, was sie durchlitt. Ihre Augen waren rotgeädert, aber offen und scharfsinnig, machten sich nur Augenblicke nach ihrem Zusammentreffen auf der Türschwelle einen Eindruck von Shelley und Zoe.
„Ich bin Special Agent Shelley Rose und das ist Special Agent Zoe Prime. Wir würden gerne hereinkommen und über Ihren Ehemann sprechen, Mrs. Henderson.“
Die Frau nickte, bedeutete ihnen, hineinzukommen, trat zurück, damit sie die Tür schließen konnte, nachdem sie eingetreten waren. Das Haus war in einem dezenten klassischen Stil möbliert, dunkles Holz und bequeme Kissen und Überwürfe. Mrs. Henderson führte sie in ein Wohnzimmer, wo Shelley dankbar für sich und Zoe das Angebot eines Kaffees annahm.
„Sie scheint es sehr gut zu verkraften“, murmelte Shelley, betrachtete ihre neue Umgebung. Es war ordentlich, jeder einzelne Gegenstand an seinem Platz. Kein Staub auf dem niedrigen Couchtisch mit der Marmorplatte oder dem dunklen Sideboard voller Erinnerungsstücke und Nippes. Frisches Obst lag in einer polierten Schale in der Mitte des Tisches. Es wirkte eher wie eine Fernsehkulisse als ein tatsächlich bewohntes Zuhause.
Vielleicht verarbeitete Mrs. Henderson ihre Trauer, indem sie das Haus putzte und aufräumte, bereit für Besucher. Es wäre nicht völlig ungewöhnlich. Shelley hatte es zuvor erlebt. Es war mit Verleugnung verbunden – der Gedanke, dass, wenn sie nur sicherstellte, dass alles perfekt war, ihr Ehemann vielleicht wieder in der Tür stand.
Die Beschäftigung hielt zudem die Trauer auf Armeslänge.
Eine gerahmte Fotografie stand auf dem Kaminsims: der Professor und seine Frau, in glücklicheren Zeiten. Shelley betrachtete das Bild und versuchte, nicht die schreckliche Schweinerei vor sich zu sehen, in die der Kopf des Professors verwandelt worden war.
„Siebzehn Statuetten“, murmelte Zoe. Shelley folgte ihrem Blick zum Sideboard und wusste, dass Zoe tat, was sie immer tat: nach Zahlen suchen. In diesem Fall hatten sie allerdings eine neue Bedeutung angenommen. Sie suchte nach einem Hinweis, der zu einem Durchbruch bei den Gleichungen führen würde.
Die Hausherrin kehrte schon nach einigen Minuten zurück, trug ein Tablett mit drei Tassen heißen Kaffees. Das zarte Porzellan von Mrs. Hendersons Tasse stand im Gegensatz zu der einfachen Sachlichkeit der anderen beiden. Ein Haushalt, der zwei Persönlichkeiten verriet. Vielleicht eine Aussage, dass die Besucher, die sie heute empfing, nicht ihr bestes Porzellan wert waren.
„Das muss ein großer Schock für Sie gewesen sein“, sagte Shelley, hob ihre Tasse und pustete sanft über die Oberfläche des Kaffees, bevor sie einen Schluck nahm. Fragen oder Aussagen wie diese, offen und einladend, ermutigten die Leute oft, mehr Informationen preiszugeben. Die Art Information, zu der man vielleicht von selbst gar keine Fragen gestellt hätte.
„Oh ja“, Mrs. Henderson seufzte tief, lehnte sich in dem Sessel zurück, der anscheinend ihr üblicher Sitzplatz war. „Ich kann es immer noch nicht ganz glauben. Mein Ralph, einfach verstorben. Und auch noch so gewaltsam. Ich kann es einfach nicht begreifen.“
„Können Sie sich einen Grund für diese extreme Gewalt vorstellen, Mrs. Henderson?“
Die ältere Frau schloss kurz die Augen, eine Hand flatterte zu ihrer Stirn hinauf. Sie war immer noch mit einem einfachen goldenen Ehering geschmückt, neben einem aufwendigeren Schmuckstück mit kleinen Diamanten. Vielleicht ein Verlobungsring, jahrzehntealt. „Zuerst dachte ich, sie wollten etwas stehlen. Sein Auto oder seine Geldbörse. Aber die Polizei sagte, dass nichts fehlt.“
„Die Psychologen teilten uns mit, dass es am Tatort Hinweise auf große Wut gibt. Diese Art Wut, nun, normalerweise stammt sie daher, dass jemand jemanden persönlich kennt. Gibt es da jemanden, der Ihnen einfällt? Jemanden, der auf Ihren Ehemann wütend ist, genug, um ihm Böses zu wünschen?“
Ein besticktes Taschentuch wurde hochgehoben, um ihre Augen abzutupfen, die beringte Hand hob sich, um eine Strähne ihres mausbraunen Haares zurückzustreichen. „Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich meine, Ralph war – er war Ralph . Er würde keiner Fliege etwas zuleide tun. Er kam mit seinen Kollegen zurecht, wurde von seinen Studenten gemocht. Wir haben einige Freunde in der Nachbarschaft, die ab und an zum Abendessen vorbeikamen. Er hatte nicht einmal mit Fremden gestritten. Er hatte nichts Streitlustiges . Jeder liebte ihn!“
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