Er betrachtete die Fotos auf dem Bildschirm. Die toten Menschen. Das Video des einen Opfers, das dem Tod nahe war – der einzige Hinweis darauf, dass es noch lebte, waren die kleinen, stockigen Atemzüge, die alle fünf Sekunden erfolgten. Dann waren da die Bilder von Menschen, die bei lebendigem Leib verbrannt wurden. Und die Fotos des Mannes, der den Tod seiner Frau aufgenommen hatte, als er sie während dem Sex im Bett erstickte.
Vermutlich würden manche sagen, dass er krank im Kopf war, dass bei ihm etwas nicht stimmte. Er glaubte nicht, dass das der Fall war – aber wer weiß? Manche würden vielleicht annehmen, dass er ein furchtbares Kindheitstrauma erlitten, etwas Unmenschliches erfahren hatte, das ihn zu dem Menschen machte, der er war. Aber auch das stimmte nicht. Seine Kindheit war großartig gewesen und seine Eltern liebevoll. Noch immer sprach er mindestens einmal pro Woche mit ihnen und seine Mutter fragte sich noch immer, wann er sich endlich niederlassen würde, um zu heiraten und ihnen Enkelkinder zu schenken.
Seine Mutter hatte sich auch gefragt, was mit den drei Katzen geschehen war, die sie im Zeitraum von fünf Jahren besessen hatte. Er kannte die Antwort. Er hatte sie umgebracht. Und das auf unterschiedliche Art und Weise, um zu sehen, wie es sich anfühlte. Um zu sehen, wie das Leben aus ihren Augen verschwand.
Er hatte es nicht besonders genossen. Es hatte kaum einen Kampf gegeben und am Ende hatte es sich angefühlt, als erwürge er ein Stofftier.
Mit Sophie war es anders gewesen. Gott, das war ein fantastisches Gefühl. Unbeschreiblich.
Also vielleicht, und nur vielleicht, stimmte mit ihm tatsächlich etwas nicht. Die meisten würden wohl sagen, dass das der Fall war, aber er hatte noch immer nicht das Gefühl, dass das stimmte.
Nein, nichts davon entsprach der Wahrheit. Ihm ging es gut. Er genoss es einfach nur, andere leiden zu sehen. Er genoss den Anblick sterbender Menschen.
Und ihm gefiel auch die Herausforderung. Denn das war es, was die Stimme ihm schenkte: Herausforderungen.
Die Stimme hatte ihm in den letzten Monaten mehrere Aufgaben gestellt. Es hatte langsam angefangen, fast schon spielerisch. Beobachte das verheiratete Pärchen am Ende der Straße beim Sex. Lass einen Stein auf den Straßenhund fallen – aus dem Fenster im vierten Stockwerk. Schicke eine Bombendrohung an die örtliche Grundschule.
Die Stimme hatte einen Namen und er kannte ihn. Aber er bezeichnete sie gerne als die Stimme. Das hielt ihn auf Abstand und erleichterte es ihm, die Aufgaben auszuführen und die Instruktionen zu beachten.
Die ersten Herausforderungen waren einfach gewesen – obwohl er sich gewünscht hätte, der Hund wäre sofort gestorben, nachdem der Stein ihn getroffen hatte. Er hatte noch immer Albträume deswegen.
Nach den ersten Aufgaben waren die richtigen Herausforderungen gekommen. Die, in denen es um Mord ging. Die Stimme wusste, was er sich im Internet ansah. Manchmal glaubte er, die Stimme kenne ihn besser als er selbst und kontrolliere ihn von innen.
Ja, die Stimme hatte ihn schließlich darum gebeten, zu töten – eine Fantasie auszuleben, statt nur davon zu träumen, während er im Dark Web browste.
Die Stimme hatte ihn herausgefordert. Und er war ihr gefolgt.
Und nun gab es eine neue Aufgabe.
Die Stimme hatte sie ihm vor einer Stunde erteilt. Deshalb browste er gerade durch Foren und schaute sich Videos tabuisierter Inhalte an – Inhalte, von denen er wusste, dass sie ihm Gefängniszeit einbringen konnten, wenn er jemals erwischt wurde.
Er arbeitete daran, den Mut aufzubringen. Denn die Stimme hatte ihn erneut gebeten, zu töten. Und dieses Mal sollte er es am helllichten Tag tun.
Die Vorstellung war mehr als aufregend – fast schon erregend. Er konnte an nichts anderes denken. Er war sich nicht sicher, wie er es anstellen sollte, aber er hatte bereits ein Opfer im Kopf. Er hatte schon darüber nachgedacht, bevor die Stimme überhaupt damit begonnen hatte, mit ihm zu sprechen. Eine andere Frau, eine andere wunderschöne Kreatur, die ihm das Gefühl gab, schmutzig und schlecht zu sein. Sie verdiente es vermutlich nicht, zu sterben, aber das lag nicht in seiner Hand.
Die Stimme hatte die Herausforderung gestellt und er konnte nichts dagegen tun. Selbst wenn er es wollte. Sein Verstand, sein Körper und sein Herz waren bereit, die Aufgabe anzunehmen. Es würde einfach sein. Wie atmen oder schlafen. Es wäre natürlich, wie alles andere auch, worum die Stimme ihn gebeten hatte.
Tu es erneut. Dieses Mal am helllichten Tag.
Er konnte die Stimme in seinem Kopf noch immer hören. Jedes Wort langsam und langgezogen.
Sie war noch immer da, als er auf seinem Schreibtischstuhl einschlief, der Bildschirm mit den erbärmlichen Fotos vor ihm.
Es war nie einfach, die Familie eines Opfers so kurz nach dem Tod eines geliebten Menschen zu besuchen – vor allem wenn man vorhatte, genau darüber Fragen zu stellen. Mackenzie hatte aufgehört, zu zählen, wie oft sie diesen Besuch gemacht hatte, aber es gab einige, die sie nie vergessen würde. Trauer wurde immer auf unterschiedlichste Weise ausgedrückt, aber noch nie hatte sie gesehen, dass sie durch pure Wut geäußert wurde.
Der Besuch bei Sophies Torres Eltern war anders. Die Mutter – eine spindeldürre Frau mit dem Namen Esmeralda – war vor Trauer offensichtlich fix und fertig. Das sah sie in ihren Augen und in ihrem Gesicht, als sie ihr Haus betrat.
Esmeralda führte sie wie ein Gespenst durchs Haus, als übe sie, in ihrem eigenen Zuhause herum zu spuken. „Bitte kommen Sie herein“ war alles, was sie herausgebracht hatte. Sie lief, als verlören ihre Beine ihre Kraft, als sähe kein einziger Muskel in ihrem Körper auch nur einen Grund, weiterzumachen, jetzt, wo ihre Tochter nicht mehr am Leben war.
Dies war wirklich der eine Teil ihres Jobs, den Mackenzie hasste. Sie schielte zu Webber und sah, dass er feierlich und fast schon bedauernd wirkte. Es passte nicht zu ihm – sie hatte ihn bisher ganz anders kennengelernt.
Esmeralda brachte sie in ihre Küche. Dort sah Mackenzie ihren Mann, der am Küchentisch saß. Vor ihm ein Fotoalbum und ein Dekanter mit einer Art von Likör. Sein Gesicht war wie eine Steinmauer, sein Körper eine Hülle der Wut. Sie war so dick, dass Mackenzie glaubte, sie spüren zu können wie eine Feuerwand.
„Mein Mann“, sagte Esmeralda und winkte abwesend in seine Richtung. Sie nannte nicht einmal seinen Namen und schien nichts mehr zu tun, als ein wahlloses Möbelstück zu identifizieren.
Zuerst sagte er nichts. Doch als die Agenten die Küche betraten, stand er auf. Er ließ das Fotoalbum auf dem Tisch liegen, nahm sich aber den Likör. Noch immer sagte er nichts und lehnte sich lediglich gegen den Küchentresen.
„Tee?“, fragte Esmeralda. „Kaffee?“
Mackenzie wollte nichts, aber sie war schon oft in dieser Situation gewesen. Sie wusste, dass es für Esmeralda Torres eine große Hilfe sein würde, etwas zu tun zu haben. Eine Beschäftigung zu haben gab Menschen in dieser Situation das Gefühl, die Kontrolle über irgendetwas zu behalten.
„Wir wissen, wie unglaublich schwer das ist“, sagte Webber, während sie sich auf die kleinen Barstühle setzten. „Vielen Dank für Ihre Kooperation. Dabei helfen Sie uns in vielerlei Hinsicht, diesen Fall besser zu verstehen.“
Esmeralda sagte nichts, sondern beschäftigte sich mit dem Tee. Kein einziges Wort wurde in der Küche der Torres gesprochen, bis der Wasserkessel auf dem Herd pfiff und sie das Wasser in die Tassen gab, an deren Seiten Teebeutel hingen.
Esmeralda überreichte ihnen ihre Teetassen. Mackenzie nippte sofort daran. Der Tee war stark, vermutlich eine Art Grüntee, wenn sie richtig lag. Sie hatte schon immer Kaffee bevorzugt.
„Was können wir für Sie tun?“, fragte Esmeralda schließlich.
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