Mackenzie beäugte den leeren Platz. Außer einigen alten Ölflecken und Zigarettenstummeln konnte sie nichts sehen. Kein Blut, keine Haare oder Fasern.
„Wir haben im Büro Zugang zur Videoüberwachung, nicht wahr?“
„Ja, und die upgedateten Fallakten. Wie du bestimmt weißt, kommen viele Infos erst nach Feierabend rein. Ich weiß nicht, wie aktuell die Infos waren, die du erhalten hast.“
Das breite Grinsen war zurück. Und obwohl er sie keinesfalls begaffte, betrachtete er sie doch mit undurchdringlichem Blick. Er ertappte sich dabei und schien eine Art Fluchtreflex abzuschütteln. Er schüttelte den Kopf, als wolle er sich einen klaren Kopf verschaffen.
„Tut mir leid. Ich … ähm, ich versuche immer noch, die Tatsache zu akzeptieren, dass du hier bist. Und ich mit dir arbeiten darf.“
„Es ist keine große Sache“, sagte Mackenzie. „Glaub mir.“
„Bescheiden. Ich verstehe. Aber ob es dir gefällt oder nicht – du bist eine Art Legende für all diejenigen, die in den letzten drei Jahren auf der Akademie waren.“
Seine Worte schmeichelten ihr. Egal, wie bescheiden jemand auch sein mochte, war es immer schön, positive Dinge über sich selbst zu hören. Es war auf jeden Fall ermutigend. Aber sie fühlte sich definitiv nicht wie eine Legende. Wenn Webber ihre Selbstzweifel oder Ängste, die immerzu in ihrem Herzen weilten, kennen würde, hätte er ein anderes Bild von ihr. Das war ihr Hauptgrund, ihn davon abzuhalten, ihr Loblied zu singen und stattdessen die Klappe zu halten.
„Ich würde gerne sehen, wo die Person auf dem Überwachsungsvideo gelaufen ist“, sagte sie.
„Sicher. Sollen wir fahren oder gehen? Es sind nur zwei Blocks.“
„Dann laufen wir.“
Webber schien kein Problem damit zu haben und entschied, mit seinem Wagen weiterhin den Tatort abzuschirmen. Die Agenten verließen das Parkhaus und traten hinaus ins Tageslicht. Webber brachte sie zum Pfandleihhaus, wo die Überwachungskamera positioniert war, die die Person in Regenjacke aufgenommen hatte.
Der Laden war zu so früher Stunde noch geschlossen, aber Mackenzie schien das nicht zu stören. Um ehrlich zu sein, würde sie das Video viel lieber an einem Laptop anschauen, den sie kontrollierte, statt im Pfandleihhaus, wo der Besitzer sich mit seinen Geräten besser auskannte als sie.
„Der Blickwinkel des Videos zeigt ziemlich gerade die Straße runter“, sagte Webber. „Das Parkhaus ist außer Sichtweite, wir sehen also nicht, wie er es betritt.“
Sie gingen langsam die Straße entlang. Mackenzie sah sich auf dem Gehweg um und betrachtete die Schaufenster, unsicher, wonach sie suchte. Sie entdeckte eine Seitengasse, doch die war abgesperrt. Sie drehte sich um und suchte nach anderen Orten, wo die Person sich hätte verstecken können.
Als könne er ihre Gedanken lesen, zeigte Webber auf eine Stelle drei Häuser weiter. „Dort drüben gibt es eine Seitengasse. Die habe ich mir gestern angesehen. Ich habe nichts gefunden, aber unser Täter hat möglicherweise dort auf Ms. Torres gewartet.“
Gemeinsam gingen sie zum ‚Sixteenth Street Diner‘. Vom vorderen Eingang aus war das Parkhaus gut sichtbar; es lag lediglich einen Häuserblock entfernt. Mackenzie betrachtete die Tür des Imbisses. Der schwere Geruch von Speck und Kaffee wehte in ihre Richtung.
„Hattest du die Gelegenheit, dich mit ihren Arbeitskollegen zu unterhalten?“, fragte Mackenzie. Sie verspürte den Drang, den Diner zu betreten, um selbst nach Informationen zu suchen, aber sie hatte noch nie befürwortet, eine Arbeit zwei Mal zu erledigen. Wenn Webber zufriedenstellende Arbeit geleistet hatte, gab es keinen Grund für sie, die Befragung zu wiederholen.
„Ja. Vier Angestellte inklusive ihres Vorgesetzten. Steht alles in den Notizen. Ehrlich gesagt kam dabei aber nur wenig raus. In einigen Fällen mussten ein paar Typen wegen unangemessenen Grapschens aus dem Imbiss geleitet werden. Niemand redet schlecht von Ms. Torres, aber es war klar, dass einige ihrer Kolleginnen neidisch auf sie waren. Eine hat sogar behauptet, sich immer Sorgen um einen solchen Vorfall gemacht zu haben. Anscheinend hat Ms. Torres ihr ausladendes Dekolleté und ihre kurzen Lederröcke eingesetzt, um gutes Trinkgeld zu kassieren. In Establishments wie diesem ist diese Art von Dresscode zu späten Stunden okay.“
Sie setzten ihre Unterhaltung fort, bis sie wieder am Parkhaus angelangt waren. Mackenzie hatte nichts Nennenswertes gesehen, aber gleichzeitig das Gefühl, sowohl Opfer als auch Killer nun besser zu kennen, indem sie denselben Weg gegangen war und damit zumindest Ms. Torres‘ letzten Schritte verfolgen hatte können.
Auf dem Weg zu ihren Autos meinte Webber: „Möchtest du dir noch mehr ansehen oder sollen wir uns an die Unterlagen machen?“
„Ich denke, wir können direkt zum Büro fahren“, sagte Mackenzie. „Insofern ich nichts Offensichtliches übersehen habe, glaube ich nicht, dass es hier etwas gibt, was von den Forensikern nicht bereits katalogisiert wurde.“
„Da stimme ich zu. Du kannst mir hinterherfahren.“
Mackenzie ging zurück zu ihrem Wagen und verdrehte die Augen über Webbers jungenhafte Aufregung, die er beim Einsteigen in sein Auto demonstriert hatte. Es war schon eine Weile her, seitdem jemand sie an ihre Vergangenheit und die Geschichte erinnert hatte, wie sie so zügig die Karriereleiter vom Kleinstadtcop zum legendären FBI-Agenten erklommen hatte. Es war schön, einen Blick auf die Vergangenheit zu werfen; eine Erinnerung daran, wo sie herkam und was sie bereits erreicht hatte.
Aber all das lag nun in der Vergangenheit. Als sie an die Frau dachte, die sie einmal gewesen war, fühlte es sich an, als versuche sie sich an die Handlungen und Eigenschaften einer Fremden zu erinnern.
Vielleicht ist das die Erinnerung, die ich brauche, um wirklich wieder in den Sattel zu steigen, dachte Mackenzie. Aber selbst als sie Webber aus dem Parkhaus in die Stadt folgte, war die Vorstellung, sich an den Vogelscheuchen-Mörder und ihr chaotisches Privatleben zu erinnern, vielmehr wie ein Schritt in ein Geisterhaus. Ein Haus, dessen Türen jemand von außen verschlossen hatte.
Webber zeigte ihr ihr temporäres Büro – eine Räumlichkeit so groß wie ein geräumiger Kleiderschrank. Er installierte ihren Laptop und versorgte sie mit den Ausdrucken all der Unterlagen der beiden Mordfälle. Er bot sogar an, ihr Kaffee und einen Donut zu bringen – begierig, alles zu tun, um ihr das Gefühl zu geben, willkommen zu sein. Sie wünschte sich, er würde damit aufhören, da er sich bereit jetzt mehr wie ein Assistent als ein Agent benahm. Wenn er nicht bald damit aufhörte, würde sie mit ihm reden müssen.
Zum Glück gab es keine neuen Erkenntnisse, die sie durchforsten mussten. Die Informationen, die ihr nach dem Durchlesen der Akten am vergangenen Abend noch gefehlt hatten, waren von Webber bereits im Parkhaus geklärt worden. Zuerst sah sie sich nun den Bericht des Gerichtmediziners im Fall des ersten Opfers, Amy Hill aus Portland, an. Sie las den Bericht und sah schnell, wie man zu der Schlussfolgerung gekommen war, dass sie mindestens vier Mal mit einem Eichenast geschlagen worden war – direkt gegen die Augenbraue und einmal auf den Hinterkopf. Beim Betrachten der Wunde und der Lektüre der Akte fragte sie sich, wie jemand überhaupt davon hatte ausgehen können, dass die Verletzungen durch einen Hammer herbeigeführt worden waren.
Dann bat sie um Zugang zu den Aufnahmen der Videokamera des Pfandleihhauses. Sie sah sich die Aufnahmen mehre Male an und verbrachte etwa eine halbe Stunde damit, denselben Achtzehn-Sekunden-Film wieder und wieder anzusehen. Da nur eine einzige Kamera für die Aufnahme zuständig gewesen war, konnte sie das Video aus nur einer Perspektive betrachten. Trotzdem reichte es aus, zu erkennen, dass die Person, die hinter Sophie Torres aufgetaucht war, ihr Bestes gegeben hatte, ihr ungesehen zu folgen. Die gesamte Szene war an den Rändern verschwommen, vermutlich ein Ergebnis des Regens, der in jener Nacht gefallen war.
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