Sie hatte geglaubt, sich nach ihrem Abschied von Frankreich sicher zu fühlen, hatte aber nicht realisiert, wie zugänglich und verbunden Europa war. Direkt in die Staaten zurück zu gehen, wäre vernünftiger gewesen.
„Du siehst fantastisch aus – hast du abgenommen?“, fragte Jess. „Und wie läufts mit deiner Familie? Du hattest dir damals Sorgen um deine Anstellung gemacht.“
„Es hat nicht funktioniert, ich arbeite also nicht mehr dort“, sagte sie vorsichtig und verschwieg die hässlichen Details, über die sie selbst nicht nachdenken wollte.
„Oh nein. Was ist passiert?“
„Die Kinder sind nach Südfrankreich gezogen und die Familie braucht meine Dienste nicht mehr.“
Cassie hielt sich so kurz wie möglich und hoffte, dass ihre langweilige Erklärung weitere Fragen abwenden würde. Schließlich wollte sie ihre Freundin nicht anlügen.
„Das passiert nun mal. Es hätte schlimmer kommen können. Gut, dass du nicht für die Familie gearbeitet hast, über die gerade jeder spricht – die, in der der Ehemann vor Gericht steht, weil er angeblich seine Verlobte ermordet hat.“
Cassie sah schnell auf den Tisch, um sich mit ihrem Gesichtsausdruck nicht zu verraten.
Zum Glück lenkte die Ankunft des Weines sie ab und nachdem sie ihr Essen bestellt hatten, wandte sich Jess anderen Themen zu.
„Was wirst du jetzt tun?“, fragte sie Cassie.
Die Frage beschämte Cassie, weil sie keine schlüssige Antwort hatte. Sie wünschte, Jess erzählen zu können, einen Plan zu haben und nicht einfach nur von einem Tag zum anderen zu leben. Sie wusste, dass sie ihre Zeit in Europa genießen sollte, aber wurde sich ihrer Situation wegen immer unsicherer.
„Ich bin mir noch nicht ganz sicher. Ich habe darüber nachgedacht, zurück in die Staaten zu gehen und an einem wärmeren Ort nach Arbeit zu suchen. Vielleicht in Florida. Es ist zu teuer, hier zu bleiben.“
Jess nickte verständnisvoll.
„Ich habe mir einen Wagen gekauft, als ich hier angekommen bin. Jemand im Gästehaus wollte ihn loswerden. Das hat mich einiges an Bargeld gekostet.“
„Du hast einen Wagen?“, fragte Jess. „Das ist großartig!“
„Das stimmt. Ich habe ein paar wundervolle Ausflüge aus der Stadt raus unternommen, aber Sprit und die täglichen Kosten sind höher als erwartet.“
Geld zu verschwenden ohne Aussicht auf Einkommen machte ihr zu schaffen und erinnerte sie an die Mühen, die sie erlebt hatte, als sie noch jünger war.
Sie hatte ihr Zuhause mit sechzehn Jahren verlassen, um ihrem gewalttätigen Vater zu entkommen und sich seither alleine durchgeschlagen. Sie hatte weder Sicherheiten noch Ersparnisse oder eine Familie, die sie unterstützen konnte. Ihre Mutter war tot und ihre ältere Schwester Jacqui einige Jahre vor ihr ausgezogen. Seither hatte sie sich nie mehr gemeldet.
Für Cassie ging es danach Monat für Monat ums Überleben. Manchmal war sie nur mit Hängen und Würgen über die Runden gekommen. Erdnussbutter am Monatsende? Nein – es war ihr Hauptnahrungsmittel gewesen, wenn die Zeiten schwer waren. Dass sie sich Jobs in Restaurants oder hinter der Bar suchte, hatte hauptsächlich daran gelegen, dass sie dort kostenlos essen konnte.
Nun machte es sie panisch, von einem schwindenden Notgroschen zu leben, der zu ihrem einzigen Besitz zählte. Dank dem Diebstahl war dieses finanzielle Polster sogar noch geschrumpft.
„Du könntest dir einen Job suchen, um dich über Wasser zu halten. Nur für eine Weile“, empfahl Jess, als könne sie Gedanken lesen.
„Das habe ich. Ich habe mit mehreren Restaurants geredet und mich sogar für Jobs in einigen Bars beworben, wurde aber gleich wieder weggeschickt. Man ist hier sehr pingelig, was den Papierkram angeht und ich habe lediglich ein Besuchervisum.“
„Restaurantarbeit? Warum nicht als Au-Pair?“, fragte Jess neugierig.
„Nein“, erwiderte Cassie sofort, bevor sie sich daran erinnerte, dass Jess nichts von den Umständen ihres letzten Jobs wusste. Sie fuhr fort.
„Wenn ich nicht arbeiten kann, kann ich nicht arbeiten. Kein Visum bedeutet kein Visum, außerdem ist eine Stelle als Au-Pair langfristiger.“
„Nicht unbedingt“, meinte Jess. „Das muss sie nicht sein. Und ich habe selbst Erfahrung damit gemacht, ohne Visum zu arbeiten.“
„Wirklich?“
Cassie wusste, dass sie ihre Entscheidung getroffen hatte. Sie würde nicht wieder als Au-Pair arbeiten. Trotzdem klang es interessant, was Jess zu sagen hatte.
„Restaurants und Pubs werden regelmäßig kontrolliert. Es ist ihnen unmöglich, jemanden ohne korrektes Visum anzustellen. Aber für eine Familie zu arbeiten ist anders, sozusagen eine Grauzone. Schließlich könntest du ja ein Freund der Familie sein. Wer kann schon entscheiden, ob du tatsächlich arbeitest? Ich habe letztes Jahr eine Weile bei einem Freund in Devon verbracht und dort für Nachbarn zeitweise auch Aufgaben in der Kindererziehung übernommen.“
„Das ist gut zu wissen“, sagte Cassie, hatte aber nicht die Absicht, diese Option weiter zu verfolgen. Mit Jess zu reden verfestigte sogar ihre Entscheidung, in die Staaten zurückzukehren. Wenn sie den Wagen verkaufte, hätte sie genug Geld, sich selbst über Wasser zu halten, bis sie wieder auf die Beine kam.
Auf der anderen Seite hatte sie erwartet, wesentlich mehr Zeit mit Reisen zu verbringen. Sie hatte sich auf ein ganzes Jahr unterwegs gefreut und gehofft, dadurch die Zeit zu gewinnen, die sie brauchte, um Abstand von ihrer Vergangenheit zu bekommen. Das war ihre Chance auf einen Neustart und eine Rückkehr als neuer Mensch. So bald schon nach Hause zurück zu gehen würde ihr das Gefühl geben, aufgegeben zu haben. Ihr war egal, was andere Leute von ihr dachten – aber sie selbst würde sich als Versager fühlen.
Die Kellnerin trug Teller, die turmhoch mit Nachos gefüllt waren, an ihren Tisch. Cassie hatte das Frühstück ausfallen lassen und machte sich hungrig über das Essen her.
Aber Jess hielt inne, runzelte die Stirn und zog ihr Handy aus der Tasche.
„Hm, ein ehemaliger Arbeitgeber hat mich gestern angerufen, um zu fragen, ob ich ihm erneut aushelfen könnte.“
„Wirklich?“, fragte Cassie, aber ihre Aufmerksamkeit galt dem Essen.
„Ryan Ellis. Ich habe letztes Jahr für ihn gearbeitet. Die Eltern seiner Frau waren dabei, umzuziehen, und sie brauchten jemanden für die Kinder, während sie unterwegs waren. Sehr liebe Menschen, genau wie die Kinder – ein Junge und ein Mädchen. Wir hatten viel Spaß zusammen. Sie leben in einem hübschen Dorf am Meer.“
„Worum geht es bei dem Job?“
„Er sucht dringend nach jemandem, der für drei Wochen bei ihnen einzieht. Cassie, das könnte genau das Richtige für dich sein. Er hat gut bezahlt, mir Bargeld gegeben und sich kein bisschen für ein Visum interessiert. Er meinte, dass ich, wo ich ja von einer Au-Pair-Agentur akzeptiert worden war, offensichtlich eine vertrauenswürdige Person sein muss. Warum rufen wir ihn nicht an und finden mehr heraus?“
„Ich bin mir nicht sicher, ob das das Richtige für mich ist.“
Doch Jess schien entschlossen, Cassies Zukunft in die Hände zu nehmen und tippte auf ihrem Handy herum.
„Ich schicke dir trotzdem mal seine Nummer. Und ich werde ihm eine Nachricht schicken, dass du dich möglicherweise bei ihm melden wirst und ich dich sehr empfehlen kann. Man weiß nie – selbst, wenn du nicht für ihn arbeitest, kennt er vielleicht jemanden, der einen Haussitter braucht. Oder jemanden, der mit Hunden Gassi geht. Oder so.“
Cassie konnte ihre Logik nicht abstreiten und einen Moment später vibrierte ihr Handy und die Nummer erschien auf ihrem Display.
„Wie läuft deine Arbeit?“, fragte sie, als Jess ihre Nachrichten abgeschickt hatte.
„Könnte nicht besser sein.“ Jess schaufelte Guacamole auf einen Tortilla-Chip.
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