Die Abenteuer des Tages und die Talentshow, in der es auch um zwei Turnschülergruppen gegangen war, beschäftigten Madison noch länger.
„Ich glaube, ich will mal Turnerin werden“, sagte sie.
„Das ist viel Arbeit, aber wenn es dein Traum ist, dann musst du ihm folgen“, riet Cassie.
„Ich habe das Gefühl, nicht einschlafen zu können.“
„Willst du noch etwas plaudern? Oder soll ich dir eine Geschichte vorlesen?“
Cassie versuchte, beim Gedanken an Ryan, der mit einem Glas Wein auf der Terrasse saß und auf sie wartete, nicht ungeduldig zu werden. Oder vielleicht wartete er gar nicht, sondern war bereits zu Bett gegangen. Dann würde sie die Gelegenheit verpassen, ihm von Dylans Ladendiebstahl zu erzählen.
Die Erinnerung rüttelte sie auf. In ihrem Glück über das aufmerksame Geschenk und dem Geplauder am Esstisch hatte sie den unangenehmen Vorfall vollkommen vergessen. Es war ihre Pflicht, Ryan davon zu erzählen, auch wenn sie damit den wundervollen Tag ruinierte.
„Ich würde gerne etwas lesen.“
Madison schlug ihre Decke zurück, ging zum Regal und wählte ein Buch, das sie offensichtlich schon oft gelesen hatte, denn der Rücken war faltig und die Seiten voller Eselsohren.
„Das ist die Geschichte eines normalen Mädchens, das Balletttänzerin wird. Es ist so aufregend. Jedes Mal, wenn ich es lese, begeistert es mich aufs Neue. Denkst du, das ist seltsam?“
„Nein, überhaupt nicht. Die besten Geschichten geben dir immer dieses Gefühl“, sagte Cassie.
„Cassie, denkst du, dass auf dem Internat Turnen unterrichtet wird?“
Wieder dieses Internat. Cassie hielt inne.
„Ja, vor allem weil es sich bei Internaten gewöhnlich um größere Schulen handelt. Ich nehme an, dass es dort viele Sporteinrichtungen gibt.“
Madison schien mit der Antwort zufrieden zu sein, hatte dann aber einen weiteren Gedanken.
„Darf man die Ferien über im Internat bleiben?“
„Nein, in den Ferien gehen die Schüler nach Hause. Warum würdest du in der Schule bleiben wollen?“
Cassie hoffte, eine Antwort zu erhalten, aber Madison zog sich die Decke bis zum Kinn und öffnete das Buch.
„Ich habe mich nur gewundert. Gute Nacht. Ich schalte mein Licht später selbst aus.“
„Ich sehe nochmal nach dir“, versprach Cassie, bevor sie die Tür schloss.
Sie eilte zu ihrem Zimmer, nahm sich ihren Mantel und zog die hübschen, neuen Handschuhe an, bevor sie auf den Balkon ging.
Zu ihrer Erleichterung war Ryan noch immer dort. Sie sah sogar freudig, dass er auf sie gewartet und den Wein noch nicht eingeschenkt hatte. Als er sie sah, sprang er auf die Füße, zog ihren Stuhl näher an seinen und schüttelte das Kissen auf, bevor sie sich setzte.
„Prost. Vielen Dank für heute. Es ist das beste Gefühl der Welt, die Kinder so glücklich zu sehen.“
„Prost.“
Als ihr Weinglas seines berührte, erinnerte sie sich, dass der Tag nicht wirklich perfekt gewesen war. Es hatte einen ernsthaften Vorfall gegeben. Wie sollte sie ihm davon erzählen? Was wäre, wenn er sie für ihre Vorgehensweise kritisierte?
Sie entschied sich dafür, das Thema langsam anzugehen und im Gespräch darauf zu kommen. Vielleicht würde Ryan ja erneut seine Scheidung erwähnen, das wäre die perfekte Überleitung für sie: „Weißt du, ich denke, die Scheidung war schwerer für Dylan als gedacht. Kurz nachdem Madison ihre Mutter erwähnt hat, hat er in einem Laden Süßigkeiten gestohlen.“
Sie sprachen eine Weile über das Wetter – der folgende Tag versprach, gut zu werden – und den Zeitplan der Kinder. Ryan erklärte ihr, dass der Schulbus die beiden morgens um halb acht abholen würde, er dann bereits bei der Arbeit sei und die Kinder sie über den weiteren Tagesverlauf oder etwaige Aktivitäten informieren würden.
„In meinem Schrank hängt außerdem ein Stundenplan, den kannst du dir jederzeit ansehen“, sagte er. „Ich aktualisiere ihn stets.“
„Danke. Ich werde mich bei Bedarf daran orientieren“, antwortete Cassie.
„Weißt du“, sagte Ryan und Cassie verspannte sich. Sie leerte ihr Glas, denn seine Stimme hatte sich verändert, war ernster geworden. Sie war sich sicher, dass er seine Scheidung erwähnen würde, was für sie bedeutete, dass es Zeit war, das schwierige Ladendiebstahl-Thema auf den Tisch zu bringen.
Er schenkte ihr Wein nach, bevor er fortfuhr.
„Weißt du, ich habe heute viel an dich gedacht. Als ich diese Handschuhe gesehen habe, kamst du mir sofort in den Sinn und mir wurde klar, wie sehr ich unsere Unterhaltung gestern Abend genossen habe. Die Handschuhe waren also quasi nur meine Art, dir zu sagen, dass ich sehr gerne jeden Abend mit dir hier draußen verbringen würde.“
Für einen Moment wusste Cassie nicht, was sie darauf antworten sollte. Sie konnte nicht glauben, was sie gerade gehört hatte. Als sie seine Worte verdaute, wurde ihr warm vor Freude.
„Sehr gerne. Ich habe den gestrigen Abend auch sehr genossen.“
Sie wollte noch mehr hinzufügen, hielt sich aber zurück. Sie musste sich in Acht nehmen, ihre auflodernden Emotionen für sich zu behalten. Schließlich war es möglich, dass Ryans Kommentar reine Höflichkeit gewesen war.
„Passen sie gut?“ Er nahm ihre linke Hand und streichelte ihre Finger zärtlich mit seinem Daumen.
„Ja, sie passen perfekt. Und mir ist darin überhaupt nicht mehr kalt.“
Ihr Herz klopfte so laut, dass sie sich fragte, ob er ihren Puls fühlen konnte, während er seine Finger sanft über ihr Handgelenk wandern ließ, bevor er sie schließlich losließ.
„Ich bewundere dich so sehr, den Schritt gewagt zu haben, die andere Seite des Ozeans zu erkunden. Hast du dich ganz alleine dazu entschieden? Oder mit anderen gemeinsam?“
„Ganz alleine“, sagte Cassie und freute sich über seine Anerkennung.
„Das ist unglaublich. Was denkt deine Familie darüber?“
Cassie wollte nicht lügen, also gab sie ihr Bestes, die Angelegenheit zu umgehen.
„Ich habe nur Unterstützung erfahren. Von Freunden, Familienmitgliedern und meinen vorherigen Arbeitgebern. Einige Freunde meinten, ich würde Heimweh bekommen und bald nach Hause zurückkehren, aber dem war nicht so.“
„Und hast du jemand Besonderen zurückgelassen? Einen Freund, vielleicht?“
Cassie konnte kaum atmen, als ihr klar wurde, was seine Frage beinhaltete. Machte Ryan Anspielungen? Oder handelte es sich lediglich um eine normale Unterhaltung, weil er mehr über sie erfahren wollte? Sie musste vorsichtig sein. Ihre Schwärmerei für ihn könnte sie dazu bringen, etwas Unangebrachtes zu sagen.
„Ich habe keinen Freund. Anfang des Jahres war ich mit jemandem zusammen, aber wir haben uns schon lange vor meiner Abreise getrennt.“
Das war nicht die Wahrheit. Sie hatte nur wenige Wochen vor ihrem Abschied mit ihrem gewalttätigen Ex Schluss gemacht. Es war einer ihrer Hauptgründe gewesen, den Kontinent zu verlassen – sie hatte nicht riskieren wollen, von ihm verfolgt zu werden oder ihre Meinung ihm gegenüber zu ändern.
Aber diese Version konnte Cassie Ryan nicht erzählen. In diesem Moment, an diesem Ort, während sie die weißen Kämme der Wellen beobachtete, die ans Ufer rollten, wollte sie, dass er glaubte, ihre letzte Beziehung befände sich weit in der Vergangenheit. Dass sie ruhig und narbenlos und bereit für etwas Neues war.
„Ich bin froh, dass du das mit mir geteilt hast. Es wäre nicht richtig von mir, nicht sicher zu gehen“, sagte Ryan leise. „Und ich nehme an, dass du die Beziehung beendet hast, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass es andersherum gewesen sein könnte.“
Cassie starrte ihn an. Seine hellblauen Augen hypnotisierten sie und sie hatte das Gefühl, zu träumen.
„Ja, das habe ich. Es hat nicht funktioniert und ich musste die Entscheidung treffen.“
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