Schwitzend und schreiend wachte sie auf und hörte die besorgte Stimme ihrer Nachbarin. „Hey, Cassie. Bist du okay?“
Der Albtraum wirkte noch immer nach und wartete darauf, sie zurück zu ziehen. Sie konnte die Schürfwunden an ihrem Arm spüren, wo das rostige Bettgestell sie verletzt hatte. Sie legte ihre Finger darauf und war erleichtert, ungebrochene Haut vorzufinden. Sie öffnete ihre Augen weiter und schaltete das Licht an, um die Dunkelheit zu verscheuchen.
„Alles gut. Nur ein böser Traum, das ist alles.“
„Möchtest du etwas Wasser? Oder Tee? Ich kann die Stewardess rufen.“
Cassie wollte zuerst höflich ablehnen, aber dann erinnerte sie sich daran, ihre Medikamente zu nehmen. Wenn eine Tablette nicht wirkte, waren zwei normalerweise ausreicehnd, um die Albträume aufzuhalten.
„Wasser wäre prima, danke“, sagte sie.
Sie wartete, bis Jess nicht hinsah und schluckte schnell eine weitere Pille.
Sie versuchte nicht, wieder einzuschlafen.
Während der Landung tauschte sie mit Jess Handynummern aus. Und nur für den Notfall schrieb sie sich auch den Namen und die Adresse der Familie, für die Jess arbeiten würde, auf. Cassie sagte sich selbst, dass es wie eine Versicherung war – wenn sie sie hatte, würde sie sie hoffentlich nicht brauchen. Sie versprachen einander, bei der ersten Gelegenheit zusammen das Schloss von Versailles zu besichtigen.
Als sie auf dem Rollfeld des Charles de Gaulle Flughafen parkten, lachte Jess aufgeregt. Schnell zeigte sie Cassie ein Selfie ihrer Familie, das diese beim Warten aufgenommen hatte. Das attraktive Paar und die zwei Kinder lächelten und hielten ein Schild mit dem Namen ‚Jess‘ hoch.
Cassie hatte keine Nachricht erhalten. Maureen hatte ihr lediglich gesagt, dass man sie am Flughafen treffen würde. Der Gang zur Passkontrolle kam ihr ewig vor. Sie war von dem Geplapper der Gespräche in verschiedenen Sprach umgeben und als sie versuchte, dem Pärchen zuzuhören, das neben ihr lief, realisierte sie, wie wenig gesprochenes Französisch sie tatsächlich zu verstehen in der Lage schien. Die Realität war so anders wie Schulunterricht und Sprachaudiotapes. Sie hatte Angst, fühlte sich einsam und unausgeschlafen. Als sie sich mit den elegant gekleideten, französischen Reisenden verglich, wurde ihr plötzlich bewusst, wie verknittert und vollgeschwitzt ihre Kleidung war.
Sobald sie ihre Koffer hatte, eilte sie auf die Toilette, zog sich ein frisches Oberteil an und machte ihre Haare zurecht. Sie fühlte sich immer noch nicht bereit, ihre Familie zu treffen und hatte keine Ahnung, was sie erwartete. Maureen hatte ihr erzählt, dass das Haus über eine Stunde Fahrzeit vom Flughafen entfernt lag. Vielleicht waren die Kinder also nicht mitgekommen. Sie würde nach keiner großen Familie Ausschau halten, irgendein freundliches Gesicht reichte ihr.
Doch in dem Menschenmeer schien niemand auf sie zu warten, obwohl sie ihren ‚Maureens Au-Pairs‘-Rucksack gut sichtbar auf dem Gepäckwagen platziert hatte. Langsam ging sie vom Gate in die Ankunftslounge und sah sich nervös nach jemandem um, der sie erkannte, ihr zuwinkte oder ihren Namen rief.
Aber jeder schien auf jemand anderen zu warten.
Mit kalten Händen am Griff des Gepäckwagens durchkreuzte Cassie die Ankunftshalle im Zickzack und durchsuchte die langsam kleiner werdende Menge. Maureen hatte sie nicht auf diese Situation vorbereitet. Sollte sie jemanden anrufen? Würde ihr Handy in Frankreich überhaupt funktionieren?
Und dann, als sie eine letzte, panische Runde durch die Halle drehte, sah sie es.
„CASSANDRA VALE.“
Ein kleines Notizbrett, das von einem schlanken, dunkelhaarigen Mann in schwarzer Jacke und Jeans gehalten wurde.
Er stand in der Nähe der Wand, war auf sein Handy konzentriert und sah sich nicht einmal nach ihr um.
Sie ging unsicher auf ihn zu.
„Hi – ich bin Cassie. Sind Sie …?“. Ihre Worte verebbten, als sie realisierte, dass sie keine Ahnung hatte, wer er sein könnte.
„Ja“, sagte er mit stark französisch akzentuiertem Englisch. „Hier entlang.“
Sie wollte sich gerade anständig vorstellen und das vortragen, was sie einstudiert hatte – wie aufgeregt sie war, ein Teil der Familie zu werden – als sie das laminierte Schild auf seiner Jacke sah. Er war lediglich ein Taxifahrer und die Karte sein offizieller Flughafenpass.
Die Familie hatte sich nicht einmal bequemt, sie selbst von Flughafen abzuholen.
Vor Cassies Augen wurde die Stadtlandschaft von Paris sichtbar. Hohe Wohngebäude und düstere Industrieblöcke verwandelten sich langsam in die baumreiche Vorstadt. Der Nachmittag war kalt und grau und stellenweise regnete und windete es.
Sie reckte ihren Hals, um die vorbeiziehenden Schilder sehen zu können. Sie fuhren in Richtung Saint Maur und zeitweise glaubte sie, ihr Reiseziel könnte dort liegen. Doch der Fahrer fuhr an der Ausfahrt vorbei und folgte weiter der Straße aus der Stadt hinaus.
„Wie weit ist es noch?“, fragte sie, um ein Gespräch zu beginnen. Doch er grunzte nur unbestimmt und drehte das Radio lauter.
Der Regen klopfte gegen die Fenster und sie spürte das kalte Glas an ihrer Wange. Sie wünschte sich ihre dicke Jacke aus dem Kofferraum herbei. Außerdem hatte sie einen Bärenhunger – sie hatte kein Frühstück gegessen und seither keine Gelegenheit gefunden, sich etwas zu essen zu kaufen.
Nach über einer halben Stunde erreichten sie das offene Land und fuhren am Ufer der Marne entlang. Bunt bemalte Binnenschiffe waren die einzigen Farbtupfer in der Trübheit. Nur wenige Menschen in Regenjacken liefen unter den Bäumen. Einige der Bäume waren bereits kahl, andere trugen noch immer rostbraune und goldene Blätter.
„Ziemlich kalt heute, nicht wahr?“, bemerkte sie und versuchte sich erneut an einer Unterhaltung mit dem Fahrer.
Seine einzige Antwort bestand aus einem gemurmelten ‚oui‘, doch wenigstens schaltete er die Heizung an und ihr Zittern stoppte. In der Wärme des Wagens nickte sie unruhig ein, während sie Kilometer für Kilometer zurücklegten.
Eine scharfe Bremsung und ein schrilles Hupen ließen sie aufschrecken. Der Fahrer schob sich an einem stehenden LKW vorbei, verließ den Highway und bog auf eine schmale, mit Bäumen gesäumte, Straße ab. Der Regen hatte sich verzogen und das frühabendliche Licht malte den Herbst in wunderschönen Farben. Cassie sah aus dem Fenster, bewunderte die hügelige Landschaft und das Patchwork aus Feldern und riesigen, dunklen Wäldern. Sie fuhren an einem Weinbaugebiet vorbei, wo die ordentlichen Rebenreihen sich am Hügel entlangschlängelten.
Mit verlangsamter Geschwindigkeit passierte der Fahrer ein Dorf. Helle Steinhäuser mit gebogenen Fenstern und steilen Ziegeldächern standen an der Straße. Dahinter sah sie offene Felder und als sie an einer Steinbrücke vorbeikamen, erhaschte sie einen Blick auf den Kanal, der von Trauerweiden gesäumt war. Die hohe Kirchturmspitze zog sie in ihren Bann und sie fragte sich, wie alt das Gebäude war.
Sie mussten nun bald da sein, vielleicht befand sich das Anwesen ja sogar in dieser Nachbarschaft. Doch sie verabschiedete sich schnell von dieser Vermutung, als sie das Dorf verließen und sich immer weiter durch die hügelige Landschaft bewegten. Schließlich hatte sie die Orientierung ganz verloren und auch die Spitze des Kirchturms war nun nicht mehr sichtbar. Das GPS wies darauf hin, kein Signal mehr zu haben und der Fahrer brummte verärgert. Schließlich nahm er sein Handy und betrachtete konzentriert die Karte, während er fuhr.
Und dann bogen sie rechts ab und fuhren zwischen zwei hohen Torpfosten hindurch. Cassie setzte sich aufrechter hin und starrte auf die lange Kieseinfahrt. Vor ihnen lag mächtig und elegant das Anwesen – die untergehende Sonne beleuchtete auf atemberaubende Weise die Steinwände.
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