„Also, Cassandra. Sie sind in Millville, New Jersey aufgewachsen? Lebt Ihre Familie noch hier?“, fragte Maureen schließlich.
„Bitte nennen Sie mich Cassie“, antwortete sie. „Und nein, meine Familie ist weggezogen.“ Cassie drückte ihre Hände nun fester aneinander und machte sich Sorgen um die Richtung, die das Interview zu nehmen schien. Sie hatte nicht damit gerechnet, ausführlich zu ihrer Familie befragt zu werden, aber ihr wurde nun klar, dass natürlich der Background der Bewerber durchleuchtet werden musste. Schließlich würden die Au-Pairs in dem Zuhause ihrer Arbeitgeber leben und arbeiten. Sie musste sich schnell etwas überlegen, denn obwohl sie nicht lügen wollte, fürchtete sie doch, dass die Wahrheit ihrer Bewerbung schaden könnte.
„Und Ihre ältere Schwester? Sie schreiben hier, dass sie im Ausland arbeitet?“
Zu Cassies Erleichterung war Maureen zum nächsten Punkt übergegangen. Hierfür hatte sie sich eine Antwort zurechtgelegt, die ihre eigene Sache fördern würde, aber keine Details preisgab, deren Aufrichtigkeit bestätigt werden konnte.
„Die Reisen meiner Schwester haben mich auf jeden Fall dazu inspiriert, selbst im Ausland zu arbeiten. Ich wollte schon immer in einem anderen Land leben und liebe Europa. Besonders Frankreich, wo ich mit der Sprache doch recht vertraut bin.“
„Sie haben Französisch studiert?“
„Ja, zwei Jahre lang, aber ich habe auch davor schon ein enges Verhältnis zu der Sprache gehabt. Meine Mutter ist in Frankreich aufgewachsen und arbeitete hin und wieder als freiberufliche Übersetzerin, als ich noch klein war. Meine Schwester und ich sind also mit einem guten Verständnis der französischen Sprache großgeworden.“
Maureen stellte ihr nun eine Frage auf Französisch: „Was erhoffen Sie sich von einer Position als Au-Pair?“
Cassie freute sich, in fließendem Französisch antworten zu können. „Mehr über das Leben in einem anderen Land zu lernen und meine Sprachfertigkeiten zu verbessern.“
Sie hatte gehofft, Maureen mit ihrer Antwort zu beeindrucken, doch die blieb ernst, während sie die Unterlagen weiter durchging.
„Leben Sie noch zu Hause, Cassie?“
Und wieder zurück zum Familienleben … hatte Maureen den Verdacht, dass sie ihr etwas verheimlichte? Sie musste sich ihre Antworten gut überlegen. Mit sechzehn von zu Hause auszuziehen, wie sie es getan hatte, würde bei der Agenturleiterin Fragen aufwerfen. Warum so früh? Gab es Probleme? Nein, sie musste ihr ein hübscheres Bild malen. Eines, das auf ein normales und glückliches Familienleben hindeutete.
„Ich lebe alleine, seitdem ich zwanzig bin“, sagte sie und fühlte, wie ihr Gesicht vor Scham rot wurde.
„Und Sie arbeiten Teilzeit? Wie ich sehe, haben Sie ein Zeugnis von Primi. Ist das ein Restaurant?“
„Ja, ich habe die vergangenen zwei Jahre dort gekellnert.“ Das war glücklicherweise wahr. Zuvor hatte sie verschiedene andere Tätigkeiten ausgeführt und sogar kurz in einer Spelunke gearbeitet, als sie Probleme hatte, WG-Zimmer plus Fernstudium zu bezahlen. Primi, ihr letzter Job, hatte ihr am meisten Spaß gemacht. Das Restaurant-Team war wie die Familie gewesen, die sie nie hatte. Aber sie hatte dort keine Zukunft. Ihr Gehalt war niedrig und das Trinkgeld nicht viel besser. Die Geschäfte in dem Teil der Stadt waren hart. Sie hatte sich darauf vorbereitet, nach etwas anderem Ausschau zu halten, wenn der richtige Moment gekommen war, doch die Umstände hatten sich zum Negativen verändert und nun war es auf einmal dringend.
„Erfahrung in der Kinderbetreuung?“, fragte Maureen und betrachtete Cassie über ihre Brillenränder hinweg. Cassies Bauch zog sich zusammen.
„Ich – ich habe drei Monate lang in einer Kindertagesstätte ausgeholfen, bevor ich bei Primi eingestiegen bin. Das Zeugnis ist im Ordner. Ich habe ein Grundlagentraining in Sicherheit und Erster Hilfe absolviert und auch mein Background wurde überprüft“, stammelte sie und hoffte, dass es ausreichte. Es war nur eine temporäre Anstellung gewesen, als sie für eine Frau im Mutterschutz kurzzeitig die Vertretung übernommen hatte. Sie hätte nie gedacht, dass daraus ein Sprungbrett in ihre Zukunft werden könnte.
„Ich habe auch Kinderpartys im Restaurant geleitet. Ich bin ein sehr freundlicher Mensch. Ich meine, ich komme gut mit anderen klar und bin geduldig …“
Maureens Mund wurde schmal. „Wie schade, dass Ihre Erfahrung nicht frischer ist. Außerdem haben Sie keine offizielle Bescheinigung einer Ausbildung in der Kinderbetreuung. Die meisten Familien verlangen Qualifikationen oder zumindest etwas mehr Erfahrung in dem Bereich. Es wird schwer werden, Sie mit diesen Voraussetzungen in einer Familie zu platzieren.“
Cassie sah sie verzweifelt an. Es musste einfach klappen. Ihre Aussichten waren glasklar. Entweder schaffte sie es, von hier zu entkommen … oder sie würde sich in einem Kreislauf der Gewalt verfangen, dem sie mit ihrem Auszug damals schon hatte entkommen wollen.
Die blauen Flecken auf ihrem Oberarm waren innerhalb der letzten Tage aufgeblüht und zeigten nun klar definiert die Knöchelabdrücke, wo er sie geschlagen hatte. Ihr Freund, Zane, der ihr bei ihrem zweiten Date gesagt hatte, dass er sie liebte und dass er sie immer beschützen würde.
Als die hässlichen Flecken erschienen waren, hatte sie sich mit einer Gänsehaut auf dem Rücken daran erinnert, vor zehn Jahren fast identische Blutergüsse gehabt zu haben. Zuerst an ihrem Arm. Dann ihrem Hals und schließlich in ihrem Gesicht. Ebenfalls von einem angeblichen Beschützer zugefügt – ihrem Vater.
Er hatte begonnen, sie zu schlagen, als sie zwölf Jahre alt war, nachdem Jacqui, ihre ältere Schwester, von zu Hause weggerannt war. Zuvor war Jacqui die Zielscheibe seiner Wut gewesen. Ihre Anwesenheit hatte Cassie vor dem Schlimmsten bewahrt.
Zanes Hämatome waren noch immer da; es würde eine Weile dauern, bis auch diese verblassten. Sie trug ein langärmeliges T-Shirt, um sie bei dem Gespräch zu verstecken und schwitzte in dem stickigen Büro.
„Gibt es andere Stellen, wo ich mich bewerben kann?“, fragte sie Maureen. „Ich weiß, dass dies die beste Agentur im Ort ist, aber vielleicht sind Sie ja in der Lage, eine Webseite zu empfehlen?“
„Nein“, sagte Maureen bestimmt. „Zu viele Kandidaten haben damit schlechte Erfahrungen gemacht. Manche endeten in Familien, wo ihre Arbeitsstunden nicht eingehalten wurden. Von anderen wurde erwartet, neben der Kinderbetreuung auch niedere Putzaufgaben zu erfüllen. Das ist keinem gegenüber fair. Ich habe auch von anderen Belästigungen Au-Pairs gegenüber gehört. Also, nein.“
„Bitte – gibt es denn in Ihren Unterlagen irgendjemanden, der mich in Betracht ziehen könnte? Ich bin fleißig, lerne schnell und kann mich gut anpassen. Bitte geben Sie mir eine Chance.“
Maureen schwieg für einen Moment, dann klopfte sie stirnrunzelnd gegen ihre Tastatur.
„Ihre Familie, was hält sie davon, Sie für ein Jahr an das Reisen zu verlieren? Haben Sie einen Freund, jemanden, den Sie zurücklassen müssten?“
„Ich habe kürzlich mit meinem Freund Schluss gemacht. Und ich war schon immer sehr unabhängig, meine Familie weiß das.“
Zane hatte geweint und sich entschuldigt, nachdem er sie am Arm getroffen hatte. Aber sie hatte nicht nachgegeben und stattdessen an die Warnung ihrer Schwester gedacht, die sie ihr vor langer Zeit mit auf den Weg gegeben und die sich seither stets als richtig erwiesen hatte: „Kein Mann schlägt eine Frau nur einmal.“
Sie hatte ihre Taschen gepackt und war bei einer Freundin eingezogen. Um ihm aus dem Weg zu gehen, hatte sie seine Anrufe blockiert und ihre Schicht im Restaurant geändert. Sie hatte gehofft, dass er ihre Entscheidung akzeptieren und sie alleine lassen würde. Doch tief drinnen war ihr klar gewesen, dass dem nicht so sein würde. Schluss zu machen hätte seine Idee sein sollen, nicht ihre. Sein Ego konnte mit der Zurückweisung nicht umgehen.
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