Draußen am Himmel donnert es, die Brücke bebt, sodass April zusammenzuckt.
Philip küsst sie auf die Lippen.
Sie tritt einen Schritt zurück. »Ich weiß nicht, Philip … Ich meine … Ich weiß nicht, ob … Verstehst du?«
April wird von unterschiedlichen Gefühlen erfasst. Wenn sie sich darauf einlässt, es zulässt, was wird dann aus Tara? Wird es die Gemeinschaft in der Wohnung durcheinanderbringen? Wird dadurch alles noch komplizierter? Welche Auswirkungen hat es wohl auf ihre Sicherheit, auf ihre Überlebenschancen, ihre Zukunft – wenn sie denn eine haben?
Philips Miene holt sie wieder in die Gegenwart zurück. Er sieht sie mit einem beinahe glasigen, gefühlvollen Blick an, der Mund ein wenig offen vor Verlangen.
Er beugt sich vor und küsst sie erneut. Diesmal kann sie nicht anders, als auch ihre Arme um ihn zu legen und seinen Kuss zu erwidern. Sie bemerkt gar nicht, dass die ersten Regentropfen auf die Plexiglasscheiben fallen.
April spürt, wie sich ihr Körper Philips starker Umarmung hingibt. Ihre Lippen öffnen sich, und sie erbebt immer wieder, als sie sich mit ihren Zungen erkunden. Ihre Sinne sind von Philips Geschmack nach Kaffee, Pfefferminzkaugummi und seinem männlichen Geruch ganz benommen, sodass sich ihre Brustwarzen unter dem gestrickten Pullover zusammenziehen.
Ein bläulicher Blitz erhellt die Finsternis und taucht alles in ein silbriges Licht.
April weiß nicht, wie ihr geschieht. Ihr wird fast schwindelig, und sie bemerkt gar nicht, dass Regen auf das Glasdach prasselt. Sie nimmt nicht einmal wahr, dass Philip sie langsam auf den Boden der Fußgängerbrücke zieht. Ihre Lippen sind aufeinandergepresst, während Philips Hände ihre Brüste liebkosen. Vorsichtig drückt er sie mit dem Rücken gegen eine Glaswand, und ehe sie weiß, wie ihr geschieht, drängt er sich gegen sie.
Ein Sturm tobt jetzt über der Stadt, und es gießt in Strömen. Der Donner rollt, Blitze schlagen in die hohen Gebäude ein und jagen Funken in die Luft, während Philip in dem blauen Licht Aprils Pullover über ihren nackten Bauch und ihren BH zieht.
Seine Finger öffnen ihre Gürtelschnalle. Der Donner rollt unentwegt über sie hinweg. April spürt die drängenden Bewegungen von Philips Lenden zwischen ihren Beinen. Blitze flackern. Ihre Jeans sind schon über die Knie gestreift, ihre Brüste entblößt.
Ein Finger liebkost ihren Bauch, und ganz plötzlich, als ob jemand einen Schalter in ihrem Inneren umgelegt hätte – gerade als ein lauter Donnerschlag ertönt –, schießt ihr der Gedanke durch den Kopf: WARTE.
BUUUUUUUUM!
WARTE!
Eine Flutwelle des Verlangens spült Philip Blake ins tosende Wasser der Lust.
Aus unendlicher Ferne glaubt er, Aprils Stimme zu hören. Sie fleht ihn an: Halt, warte, stopp, hör zu, hör zu, das ist mir zu viel, ich bin noch nicht so weit, bitte, bitte, hör auf, jetzt. Aber Philip nimmt sie kaum wahr. Sein Gehirn schwimmt auf einer Woge der Begierde, der Sehnsucht, des Schmerzes, der Einsamkeit und der absoluten Notwendigkeit, endlich wieder etwas zu spüren. In diesem Augenblick ist sein ganzes Wesen mit seiner Leistengegend verkabelt, und sämtliche angestauten Gefühle strömen an seinem Kopf vorbei in seine Lenden.
»Um Gottes willen, ich flehe dich an, hör endlich auf!«, ertönt die Stimme in der Ferne erneut, und Aprils Körper erstarrt.
Philip reitet die sich windende Frau unter ihm, als ob er eine Pipeline weißen Rauschens surft. Er weiß, dass sie ihn insgeheim will, ihn liebt, obwohl sie etwas anderes sagt. Also stößt er immer und immer wieder in großen, magnesiumhellen Blitzen und roher Energie in sie, füllt sie aus und verwandelt sie, bis sie unter ihm erschlafft und es still wird.
Die sanfte weiße Explosion der Lust startet wie eine Rakete in Philip.
Er rutscht von April auf den Boden neben ihr und starrt eine Weile in den Regen, der auf das Dach prasselt. Für einen Moment ist er sich der untoten Seelen zehn Meter unter ihm nicht mehr bewusst, die von dem stroboskopartigen Licht wie Monster in einem Stummfilm erhellt werden.
Philip versteht Aprils Schweigen als ein Zeichen, dass vielleicht mit viel Glück alles okay ist. Als der Sturm zu einem stetigen Dauerregen abgeklungen ist – das Dröhnen erfüllt noch immer die überdachte Brücke –, ziehen sich die beiden wieder an und bleiben lange Seite an Seite liegen. Sie starren auf die Tropfen, die auf das durchsichtige Dach niederprasseln, ohne ein Wort miteinander zu wechseln.
Philip ist in einem Schockzustand. Sein Herz rast, die Haut ist feucht und kalt. Er kommt sich wie ein zerbrochener Spiegel vor – als ob eine Scherbe seiner Seele abgebrochen wäre und sich darin ein Monster widerspiegelt. Was hat er getan? Er weiß, dass er etwas falsch gemacht hat, aber es fühlt sich beinahe so an, als ob es jemand anderes gewesen wäre.
»Ich habe mich da etwas mitreißen lassen«, sagt er endlich nach Minuten fürchterlicher Stille.
Sie antwortet nicht. Er wirft ihr einen heimlichen Blick zu und beobachtet ihr Gesicht in der Dunkelheit. Die flüssigen Schatten des Regens spiegeln sich auf ihrer Haut. Sie sieht aus, als ob sie kaum bei Bewusstsein wäre, als ob sie einen Wachtraum durchleben würde.
»Es tut mir leid«, meint er kurz darauf, aber die Worte klingen hohl. Er sieht sie erneut an und versucht ihre Stimmung einzuschätzen. »Alles okay?«
»Ja.«
»Sicher?«
»Ja.«
Ihre Stimme klingt mechanisch, ohne Farbe und kaum hörbar über dem Getöse des Regens. Philip öffnet erneut den Mund, hält dann aber inne, als ihm unterschiedliche Gedanken durch den Kopf schießen. Plötzlich donnert und rumpelt es so heftig, dass die Fußgängerbrücke zu wanken und zu wackeln beginnt. Philip zuckt zusammen.
»April?«
»Ja?«
»Wir sollten uns auf den Rückweg machen.«
Der Heimweg erfolgt schweigend. Philip folgt April durch die menschenleere Eingangshalle, die Treppe hinauf und dann durch die langen, zugemüllten Korridore. Ab und zu zieht er in Erwägung, etwas zu sagen, doch er entscheidet sich jedes Mal dagegen. Jetzt ist es sowieso schon zu spät, noch etwas zu tun. Sie wird zu ihrem eigenen Schluss kommen. Wenn er jetzt das Wort an sie richtet, macht er es vielleicht nur noch schlimmer. April läuft vor ihm den Korridor entlang, das Gewehr auf der Schulter. Sie gleicht einem Soldaten, der von einer anstrengenden Patrouille zurückkehrt. Sie befinden sich jetzt im obersten Stockwerk und stehen vor dem offenen Fenster. Der Wind peitscht den Regen durch die mit Scherben eingerahmte Öffnung. Sie reden nur das Nötigste. »Du zuerst« oder »Pass auf«, während Philip ihr hilft, auf die Feuerleiter zu gelangen. Der Sturm zusammen mit dem starken Regen pfeift ihnen um die Ohren, als sie sich auf den Weg über den wackeligen Laufsteg machen. Philip gefällt es beinahe. Er muss sich vorsehen. Das Unwetter weckt ihn auf und lässt ihn hoffen, dass er vielleicht doch alles wiedergutmachen kann, was er dieser Frau an diesem Abend angetan hat.
Als sie wieder vor der Wohnungstür stehen – beide bis auf die Haut durchnässt, erschöpft und benommen –, ist Philip fast guten Mutes.
Brian ist zusammen mit Penny in Philips Zimmer und bringt sie gerade ins Bett, während Nick im Wohnzimmer an seiner Karte der Sicherheitszonen arbeitet. »He, wie war es?«, fragt er und blickt von seinen Papieren auf. »Ihr seht ja wie begossene Pudel aus. Habt ihr einen Baumarkt oder so etwas Ähnliches gefunden?«
»Nein, leider nicht«, antwortet Philip und geht zu seinem Zimmer. Davor bleibt er stehen, um sich die Schuhe auszuziehen.
April sagt kein Wort und meidet Nicks fragenden Blick, als sie in den Flur tritt.
»Schaut euch beide an«, meint Tara, die mit grimmiger Miene aus der Küche kommt, eine Zigarette im Mundwinkel. »Genau, wie ich es mir gedacht habe – ein total fruchtloses Unterfangen!«
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