»Und wie seid ihr auf die Idee verfallen, hierher nach Atlanta zu kommen?«
»Wir haben erfahren, dass es in Atlanta ein Flüchtlingslager geben soll. Sieht aber nicht danach aus.«
»Da hast du recht«, meint der alte Mann.
April mischt sich ein. »Hört sich so an, als ob wir etwas gemeinsam hätten.«
Philip starrt weiterhin auf den alten Mann, spricht aber mit der Frau, als er sagt: »Und wieso?«
»Wir sind aus dem gleichen Grund in dieser gottverlassenen Wohnung gelandet«, erwidert sie. »Wir haben auch nach diesem Flüchtlingslager gesucht, von dem alle geredet haben.«
Philip starrt auf den Lauf des Gewehrs. »Tja, selbst die besten Pläne …«
»Genauso sieht es aus«, stimmt der alte Mann zu. Philip kann jetzt das leise Zischen des Sauerstoffs hören. »Ich nehme an, ihr habt nicht die leiseste Ahnung, was ihr uns gerade angetan habt?«
»Ich höre.«
»Ihr habt die Beißer aufgewühlt. Bei Sonnenuntergang wird es da draußen eine gottverdammte Tagung geben – direkt vor unserer Tür.«
Philip zieht die Nase hoch. »Das tut mir leid. Aber wir hatten keine Alternative.«
Der alte Mann stöhnt. »Da wirst du wohl recht haben.«
»Ihre Tochter hat uns von der Straße geholt … Wir haben keine bösen Absichten … Außer, dass wir nicht gebissen werden wollen.«
»Tja, das ist verständlich.«
Es folgt eine lange Pause. Alle warten. Die beiden Waffen senken sich langsam.
»Was ist das da?«, fragt Philip und weist mit dem Kopf auf die vielen Instrumentenkoffer, die überall herumliegen. Er hat die Pistole zwar noch immer auf den alten Mann gerichtet, aber das Adrenalin in seinen Venen ist abgeebbt. »Sind da Maschinengewehre drin?«
Der alte Mann kann ein freudloses Lachen nicht verkneifen. Er legt das Gewehr quer über den Schoß, sichert es, und die Anspannung verschwindet auf einmal aus seinem hageren Gesicht. Der Sauerstofftank pfeift weiter vor sich hin. »Mein Freund. Du blickst auf die Reste der einst weltberühmten Chalmers Family Band – Stars der Bühne, Leinwand und der Volksfeste im ganzen Süden der Vereinigten Staaten.« Er nimmt das Gewehr und lehnt es an die Wand neben sich. Er blickt Philip an. »Ich sollte mich wohl besser für die unfeine Begrüßung entschuldigen.« Er rappelt sich mühsam hoch, und es dauert ein Weilchen, bis er ganz aufgerichtet ist. Irgendwie erinnert er an einen verdorrten Abraham Lincoln. »Ich heiße David Chalmers. Mandoline und Gesang sowie Vater dieser beiden Lumpenkinder.«
Philip steckt seine Pistole in den Gürtel. »Philip Blake. Das ist mein Bruder Brian. Und das Mauerblümchen da drüben ist Nick Parsons. Vielen Dank, dass Sie uns vor den Horrorgestalten da draußen gerettet haben.«
Die beiden Männer schütteln einander die Hand, und die Anspannung im Zimmer verpufft.
Es stellt sich heraus, dass es ursprünglich noch ein viertes Mitglied der Chalmers Family Band gab – Mrs. Chalmers –, eine beleibte kleine Frau aus Chattanooga, die bei Bluegrass und älteren Stücken der Gruppe Sopran sang. Laut April war es Glück im Unglück, dass ihre Mutter vor fünf Jahren an einer Lungenentzündung erkrankte und starb. Wenn sie dieses Desaster miterlebt hätte, würde es ihr wohl das Herz gebrochen haben. Sie hätte das Ganze als Apokalypse gedeutet und wäre wohl direkt vom Pier des Clark’s Hill Lake in die Fluten gesprungen.
So kam es, dass die Chalmers Family Band zu einem Trio wurde. Sie führten weiterhin ihre Stücke auf und tourten hauptsächlich durch die drei anliegenden Staaten. Tara spielte Bass, April Gitarre und Daddy die Mandoline. Als alleinerziehender Vater hatte der sechzigjährige David keine Zeit, um auf dumme Gedanken zu kommen. Tara war eine Kifferin, und April hatte das Temperament und die Sturheit ihrer Mutter geerbt.
Als die Plage über das Land fegte, befanden sie sich gerade auf einem Bluegrass-Festival in Tennessee und fuhren in ihrem Camper zurück nach Hause, kamen aber nur bis zur Grenze nach Georgia, als auf einmal der Wagen streikte. Sie hatten Glück und fanden eine Bahnstation in der Nähe. Die Züge liefen noch zwischen Dalton und Atlanta. Das Dumme war nur, dass sie in der Southeastside ausstiegen, an der King-Memorial-Station, wo es mittlerweile von Untoten nur so wimmelte. Irgendwie schafften sie es, sich nach Norden durchzuschlagen, ohne dass man sie angriff. Nachts nahmen sie einen leer herumstehenden Wagen und suchten nach dem Flüchtlingslager.
»Und so sind wir hier gelandet, in unserem kleinen, nicht gerade exklusiven Paradies«, erklärt April Philip mit leiser Stimme spätnachts. Sie sitzt auf dem abgenutzten Sofa, während Penny unter einem Berg von Decken unruhig neben ihr döst. Philip hört April interessiert zu.
Auf dem Kaffeetisch brennen Kerzen. Nick und Brian haben es sich bereits auf dem Boden bequem gemacht und sind eingeschlafen, während das Schnarchen von David und Tara aus den angrenzenden Zimmern zu hören ist.
»Wir haben zu viel Angst, um oben im Haus nachzusehen, was es dort noch so gibt«, fährt April fort. Bedauern schwingt in ihrer Stimme mit. »Obwohl wir das alles gut gebrauchen könnten, ganz gleich, was wir finden – ob Batterien, Konserven, was auch immer. Verdammt, ich würde meine linke Brust für etwas Toilettenpapier hergeben.«
»Das wäre dann wohl ein verdammt schlechter Tausch – so ein Schmuckstück für etwas Papier«, kontert Philip mit einem Lächeln. Er sitzt barfuß in seinem schmutzigen T-Shirt und der Jeans am anderen Ende des Sofas, und er ist noch immer satt vom Abendessen – Reis mit Bohnen. Der Proviant der Chalmers wird langsam knapp, aber sie haben noch immer einen fünf Kilo schweren Sack Reis, den sie vor einer Woche aus einem Lebensmittelladen mitgenommen haben, und genügend Bohnen, damit niemand Hunger leiden muss. April hat gekocht. Das Essen war gar nicht schlecht. Danach drehte Tara ein paar Joints mit den letzten Krümeln ihres Red Man Tabaks und gab reichlich Gras dazu. Philip nahm den einen oder anderen Zug, obwohl er sich schon vor Jahren geschworen hatte, das Zeug nicht mehr anzurühren. Er vernahm dann Dinge in seinem Kopf, mit denen er nichts zu tun haben wollte. Jetzt aber fühlt sich sein Kopf von dem Gras angenehm schwer an.
April lächelt ihn an. »Tja, nun … So nah und doch so fern.«
»Was?« Philip starrt sie an und hebt den Blick dann langsam Richtung Decke. »Ach ja … Richtig.« Er hat die Geräusche von oben auch gehört. Jetzt herrscht wieder Ruhe, aber das Schlurfen und die ächzenden Böden der über ihnen liegenden Wohnungen meldeten sich mit Unterbrechungen den ganzen Abend lang immer wieder. Sie waren da. Man konnte sie zwar nicht sehen, aber sie waren in unmittelbarer Nähe. Die Tatsache, dass Philip die Geräusche kaum noch beachtet, zeigt, dass ihn die Untoten und ihre Präsenz kaum noch berühren. »Wie sieht es mit den anderen Wohnungen in dieser Etage aus?«
»Die haben wir bereits leer gegessen und jedes noch so kleine, brauchbare Teil mitgenommen.«
»Was ist in Druid Hills passiert?«, erkundigt er sich nach einer kurzen Pause.
April seufzt. »Man hat uns gesagt, dass es dort ein Flüchtlingslager gibt. Gab es aber nicht.«
Philip sieht sie an. »Und?«
April zuckt mit den Schultern. »Wir sind dort angekommen und haben einen Haufen Leute getroffen, die sich bei einem Altmetallhändler verschanzt hatten. Leute wie wir. Sie hatten Angst und waren verwirrt. Wir haben versucht, mit ihnen zu reden, denn wir wollten, dass sie mit uns kommen. Zusammen sind wir stark und so.«
»Und dann?«
»Sie hatten wohl zu viel Angst, um mit uns zu kommen, wollten aber auch nicht bleiben.« April blickt zu Boden. Das Licht der flackernden Kerzen spielt in ihrem Gesicht. »Wir haben ein Auto gefunden, das noch funktionierte. Also sammelten wir etwas Proviant und machten uns auf. Doch dann hörten wir Motorräder, als wir losfuhren.«
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