Kurz darauf stehen sie auf einer zweispurigen Straße namens Miller Road, die in nördlicher Richtung durch die Dunkelheit führt. Für die nächsten zwei Kilometer kommen sie an dünn besiedelten Gewerbegebieten, desolaten Industrieparks und Werkstätten mit seltsamen Schildern vorbei: Barloworld Handling, Atlas Tool and Die, Hughes Supply, Simcast Electronics, Peachtree Steel. Das rhythmische Widerhallen ihrer Schritte auf dem kalten Asphalt vermischt sich mit ihrem angestrengten Keuchen. Die Stille, die sonst überall herrscht, fängt langsam an, mit ihren Nerven zu spielen. Penny ist müde. Plötzlich hören sie rechts ein Rascheln, das zwischen den Bäumen hervorkommt.
Philip deutet auf ein langes, niedriges Gebäude in der Ferne. »Das da passt«, verkündet er leise.
»Passt? Wozu soll es passen?«, will Nick wissen und stellt sich keuchend neben Philip.
»Dort verbringen wir die Nacht«, antwortet dieser emotionslos.
Dann führt er die Gruppe vorbei an einem niedrig hängenden, unbeleuchteten Schild: GEORGIA PACIFIC CORPORATION.
Philip steigt durch ein Bürofenster ein, während sich die anderen im Schatten des Eingangs zusammenkauern und warten, bis er sich durch die leeren, verwüsteten Korridore zum Lager in der Mitte des Gebäudes durchgekämpft hat.
Die Gänge sind so düster wie eine Krypta. Philips Herz schlägt ihm bis zum Hals, während er mit erhobener Axt durch die Flure schleicht. Er versucht einen der Lichtschalter anzumachen, jedoch ohne Erfolg. Den penetranten Geruch von Zellstoff bemerkt er kaum – es stinkt nach feuchtem Lösemittel und Klebstoff –, und als er endlich die Sicherheitstüren erreicht, stößt er sie vorsichtig mit der Stiefelspitze Zentimeter um Zentimeter auf.
Die Lagerhalle ist etwa so groß wie eine Flugzeughalle – voll riesiger Gerüste, die bis an die Decke ragen. Dort hängen große Lampen. Der Geruch von Papier liegt in der Luft. Etwas Mondlicht dringt durch die gewaltigen Dachfenster. Auf dem Boden stehen reihenweise Papierrollen, so breit wie der Stamm eines Mammutbaums. Ihr helles Weiß scheint in der Finsternis zu leuchten.
Etwas bewegt sich.
Philip steckt die Axt in den Gürtel zurück und fasst nach der Ruger. Er zieht die Waffe aus der Hose, entsichert sie, legt an und zielt auf die dunkle Gestalt, die hinter einem Stapel Paletten hervorkommt und auf ihn zuwankt. Der Fabrikarbeiter nähert sich langsam, aber offensichtlich hungrig. Der Latz seiner Hose ist voller Blut und Gallensaft, und seine Zähne funkeln im Mondlicht.
Ein Schuss – und das Geschöpf liegt am Boden. Der Knall hallt von den Wänden der großen Halle wie ein Kesselpaukenschlag wider.
Philip blickt sich um. Er sucht den Rest der Lagerhalle mit den Augen ab und entdeckt zwei weitere Zombies: einen dicken, alten Mann – seine schmutzige Uniform lässt vermuten, dass er hier Nachtwächter war – und einen jüngeren Untoten. Beide tauchen plötzlich hinter einem der Regale auf.
Philip verspürt keine Reue, als er erst dem einen und dann dem anderen eine Kugel aus kurzer Distanz in den Schädel jagt.
Als er sich wieder zum Vordereingang aufmacht, entdeckt er einen vierten Zombie zwischen zwei riesigen Papierrollen. Die untere Hälfte des ehemaligen Gabelstaplerfahrers ist zwischen den blendend weißen Zylindern eingeklemmt. Seine Körperflüssigkeiten haben eine Pfütze gebildet, die bereits gerinnt, während die obere Hälfte noch zuckt und mit milchig weißen Augen panisch umherblickt.
»He, Kollege. Was ist los?«, fragt Philip und nähert sich mit der Pistole an der Hüfte. »Die Arbeit bringt nur Scherereien – was?«
Der Zombie schnappt machtlos nach der Luft zwischen ihm und Philip.
»Es ist wohl an der Zeit, dass endlich die Mittagspause kommt.«
Erneut schlagen die Zähne aufeinander.
»Friss das hier.«
Der Knall des Zweiundzwanziger-Kalibers hallt laut, als sich die Kugel durch die Schädeldecke bohrt. Die Augen, gerade noch milchig weiß, sind mit einem Schlag schwarz. Der Fetzen eines Scheitellappens fliegt durch die Luft, und die Mischung aus Blut, Gewebe und Hirnrückenmarksflüssigkeit beschmutzt die makellos reinen weißen Papierrollen, als die obere Hälfte der Kreatur in sich zusammensackt.
Philip starrt eine Zeit lang auf sein Werk – scharlachrote Ranken breiten sich auf dem blütenweißen Untergrund aus –, ehe er sich seiner eigentlichen Aufgabe besinnt und die anderen hereinholt.
Sie verbringen die Nacht in dem gläsernen Büro eines Vorarbeiters hoch über dem Boden der Georgia-Pacific-Lagerhalle. Sie schalten ihre batteriebetriebenen Laternen an und schieben die Schreibtische und Stühle beiseite, um auf dem Linoleumboden Platz für ihre Schlafmatten zu machen.
Der ehemalige Büroinhaber hatte sich gut eingerichtet. Vielleicht wohnte er sogar in diesem nicht einmal zwanzig Quadratmeter großen Zimmer, denn es gibt CDs, eine Stereoanlage, einen Mikrowellenherd, einen kleinen Kühlschrank mit verfaulten Lebensmitteln, Schubladen voller Süßigkeiten, Werksaufträge, halb leere Flaschen Alkoholika, frische Hemden, Zigaretten, Scheckbücher und Pornohefte.
Philip macht die ganze Nacht kaum den Mund auf. Er sitzt neben einem der Fenster, von wo aus man die Halle überblicken kann, und nimmt ab und zu einen Schluck aus der kleinen Whiskeyflasche, die er in einem Schreibtisch gefunden hat. Nick hat es sich in der gegenüberliegenden Ecke bequem gemacht und liest in einer kleinen Bibel im Licht seiner Laterne. Er behauptet, dass er das ledergebundene Büchlein mit Tausenden von Eselsohren stets bei sich trüge, doch bisher hatte ihn niemand jemals darin lesen sehen.
Brian isst etwas Thunfisch und Kräcker. Als er Penny etwas anbietet, lehnt sie ab. Sie scheint sich mehr und mehr in sich zurückzuziehen. Ihre Augen blicken starr vor sich hin. Brian legt sich neben sie, während Philip auf einem Bürosessel vor dem verschmutzten, vergitterten Fenster vor sich hin döst – wie sicher schon der Vorarbeiter vor ihm, der wohl nach Faulenzern und Drückebergern Ausschau hielt. Es ist das erste Mal für Brian, seinen Bruder so sehr in Gedanken versunken zu sehen, dass er sich um seine Tochter kein einziges Mal kümmert. Kein gutes Zeichen.
Am nächsten Tag wachen sie durch lautes Hundegebell von draußen auf.
Fahles Licht scheint durch die hohen Fenster. Eilig packen sie Taschen und Rucksäcke. Keiner hat Appetit auf Frühstück, sondern alle wandern schnurstracks ins Badezimmer, verbinden ihre Füße, um sich gegen Blasen zu wappnen, und ziehen ein weiteres Paar Socken an. Brians Ferse ist bereits wund von den Kilometern, die sie gestern zurückgelegt haben. Doch das war nichts im Vergleich zu dem, was heute vor ihnen liegt. Jeder hat Kleidung zum Wechseln dabei, aber keiner hat genügend Energie, sich auch umzuziehen.
Auf dem Weg nach draußen vermeiden es alle außer Philip, sich die abgeschlachteten Untoten genauer anzuschauen. Sie liegen in ihrem Blut überall auf dem Hallenboden verstreut.
Nur Philip scheint fasziniert von den Leichen zu sein, die nun genau zu erkennen sind.
Als sie draußen vor dem Eingang stehen, entdecken sie ein Rudel streunender Straßenhunde etwa hundert Meter von ihnen entfernt. Die Tiere streiten sich um einen Haufen Fleisch. Als Philip und die anderen näher kommen, ziehen sich die Köter zurück. Im Vorübergehen wirft Brian einen Blick auf die Überreste und flüstert Penny das Geheimwort zu: weg.
Es handelt sich um einen abgetrennten menschlichen Arm, der so übel zugerichtet ist, dass man ihn eher einer zerfetzten Stoffpuppe zuordnen würde, wenn man es nicht besser wüsste.
»Schau da nicht hin, Kleines«, warnt Philip seine Tochter, und Brian zieht das Mädchen an sich und legt ihm die Hände über die Augen.
Sie halten sich erneut Richtung Westen, als sie schweigend losmarschieren. Vorsichtig setzen sie einen Fuß vor den anderen – wie Diebe, die sich verstohlen durch die Morgensonne davonschleichen.
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