Durch das Fenster beobachtete ich, wie er das Haus verließ. Mein Gesicht brannte und war rot vor Hitze. Die Augen gingen mir beinahe über. Adam spielte Football, bekam glänzende Zeugnisse und wollte Polizist werden. Ich hatte unseren jüngeren Bruder getötet und die letzte zarte Bande, die die Familie noch zusammenhielt, war mit emotionalem Ballast zum Zerreißen gespannt. Was hätten wir einander schon erzählen können?
Es ist ein Kommen, sagte mir mal ein Therapeut , und Gehen. Du treibst ziellos umher, Travis. Wirf einen Anker aus und finde Halt, bevor du versuchst, eine konkrete Richtung einzuschlagen. Was notierst du eigentlich ständig auf diesen Blöcken?
Ein Kommen und Gehen.
Weil mir der Gedanke, ein Dasein als Obdachloser zu fristen, nicht schmeckte, drückte ich zwei Jahre lang die Schulbank auf einem College zur Berufsvorbereitung, wobei ich mich ungefähr mit der Begeisterung eines Zombies ans Lernen machte. Überraschenderweise erhielt ich gute Noten.
Immerhin erntete ich dadurch verhaltenes Lob von meinem Vater, der ja gewissermaßen selbst ein Zombie war und sich daraufhin anschickte, mir zwei weitere Jahre an der Universität Towson zu finanzieren. Ich war nicht mit dem Herzen bei der Sache, bekam aber gute Noten und schloss am Ende mit Vorzug ab.
(Was Towson angeht, erinnere ich mich nur an nächtelanges Saufen mit meinem Mitbewohner, einem unverhohlenen Homosexuellen mit blaugefärbtem Stachelkopf und üblem Mundgeruch. Außerdem muss ich Stunden kotzend auf dem Klo verbracht haben, bis ich dachte, mein Kehlkopf trudle irgendwo im Abflussrohr herum. Ich ging mit Hausschuhen zum Unterricht und trug quasi die ganze Woche lang ein und dasselbe stinkende Sweatshirt. Die Liberalen stilisierten mich deshalb zur geplagten Dichterseele hoch, während ein paar relativ ansehnliche, wenn auch nicht sonderlich gepflegte Girls von der Hochschule der freien Künste Bettgymnastik mit mir betrieben; eine von ihnen wurde schließlich lesbisch, wenn ich mich nicht irre.)
Irgendwann erreichte ich im Zuge all dessen einen Punkt, an dem ich halbwegs zufrieden war. Auf den besagten Blöcken hielt ich übrigens Dutzende Erzählungen fest. Als ich das College verließ und der Doppelhaushälfte in Eastport für immer den Rücken kehrte, schrieb ich ein paar davon um und bemühte mich um eine Veröffentlichung.
Wie hatte es F. Scott Fitzgerald einmal in einem Brief ausgedrückt? Literatur sei gut, so man beim Lesen glaube, untergetaucht zu sein und den Atem anzuhalten. Nun, für mich war das stimmig. Ich hatte The Ocean Serene geschrieben, einen Roman über Kyle, und brachte ihn ebenfalls bei einem Verlag unter. Das geschah zu der Zeit, als ich in Georgetown wohnte und Jodie traf, und zum ersten Mal seit Langem sah ich einen Silberstreif am Horizont. Das Schreiben war nicht nur eine Therapie, es war eine Absolution . Endlich konnte ich meine Geister ruhen lassen. (Schlaf, alter Dämon, auch wenn ich weiß, dass du immer noch hungrig bist!)
Mit Adam klappte es auf persönlicher Ebene mittlerweile auch einigermaßen, falls man nicht sogar von einer normalen Beziehung sprechen konnte. Jedenfalls telefonierten wir regelmäßig miteinander.
Kyle war stets eine unausgesprochene Präsenz im Raum, wenn wir zu seltenen Gelegenheiten zusammenfanden. Als Adam Beth heiratete, war ich sein Trauzeuge. Ich besuchte ihn nach der Geburt seiner Kinder. Zusammen trugen wir Vater nach seinem kurzen Kampf gegen den Krebs zu Grabe und Adam wurde im darauffolgenden Jahr mein Trauzeuge. Die Stimme meines verfluchten Therapeuten jedoch hallte unterdessen ständig in meinem Kopf wider: Wirf einen Anker aus und finde Halt, bevor du versuchst, eine konkrete Richtung einzuschlagen – und weil ich diesen sprichwörtlichen Anker nie geworfen hatte, traf ich schließlich auf einen Eisberg in der Nacht von Mutters Beerdigung.
Ich hatte zuvor eine Menge Alkohol getrunken und war im Nachhinein ohnehin geneigt, die Feierlichkeiten möglichst zu vergessen, weshalb ich mich heute nur noch bruchstückhaft daran erinnere, was zwischen Adam und mir vorfiel. Dieses Bisschen genügt jedoch, um mir zu wünschen, es für immer ausblenden zu können.
Es ereignete sich im Haus meines Bruders. Nicht nur ich, sondern auch er hatte getrunken, obschon allein ich deshalb angeschlagen war. So konnte ich den Mund nicht halten und machte eine dumme Bemerkung, von wegen drei Fünftel unserer Sippe seien tot und unter der Erde, ehe ich mich zu Adam umdrehte, ohne dass er mich provoziert hätte, und mich für Kyles Tod verantwortlich machte. Er blieb sprachlos und konnte nur den Kopf schütteln, aber ich machte weiter, bis ich laut grölte. Ich hatte unseren Bruder ja tatsächlich auf dem Gewissen und wollte – musste einfach hören, dass Adam mich dessen bezichtigte. Stattdessen aber kam er auf mich zu und umarmte mich. Doch mein getrübter Verstand sah diese Umarmung als Bedrohung und ich schwang meine tollpatschige Faust in sein Gesicht und traf sein Auge.
Jodie und Beth schrien gleichzeitig auf. Ein Teller zerklirrte am Boden, was wie aus einer anderen Dimension an mein Ohr drang. Ich setzte nach, diesmal jedoch berechnender, und spürte sogar trotz meiner dem Alkohol geschuldeten Benommenheit, wie meine Fingerknöchel auf das Kinn meines älteren Bruders trafen. Dann aber traf seine Faust auf mein Gesicht, und zwar mit solcher Wucht, dass ich zu Boden ging. Ehrfurchtgebietend wie Vater baute er sich vor mir auf, was ich nur durch einen Tränenschleier wahrnahm.
Jodie las mich auf, während Beth mich Arschloch nannte und mir zu verstehen gab, ich soll mich verdammt noch mal aus ihrem Haus verpissen. Ich schleuderte ein Trinkglas durch den Raum und hörte, wie die Kinder in ihrem Zimmer zu weinen anfingen.
Während mich Jodie hinaus in die kalte Nacht führte, drückte sie mir entschieden mit einer flachen Hand ins Kreuz. Ich taumelte wie im Fieber voran. Sie sagte mir zwar einige Dinge ins Ohr, doch davon ist mir nichts im Gedächtnis geblieben, wohl weil ich auch gar nicht zugehört habe. Genauso wenig weiß ich noch von der Rückfahrt zu unserem Appartement.
Die beiden folgenden Wochen verlebte ich in einem absoluten Tief. Wie besessen dachte ich über Kyle nach und ächzte sprichwörtlich unter der Bürde meiner Schuld. Im Wahn eines frisch vom Teufel Gerittenen kritzelte ich weitere Blöcke voll und rauchte wie ein Schlot. Ferner wechselte ich die Kleidung nicht mehr, obwohl anders als zu meiner Zeit auf dem College niemand darauf gekommen wäre, mir deshalb Künstlerdünkel anzudichten.
Mein schlechtes Gewissen ähnelte einem Teich, in dem ich zu ertrinken drohte … allerdings beschwört diese Vorstellung auch Szenen von flatternden Armen und Hilferufen herauf. Aber nicht ich. Ich ertrank in meinem Kummer mit grotesker Zustimmung, wie ein Kapitän eines Schiffes, der aus Verpflichtung zum Meeresboden sinkt, angetrieben durch die Opferbereitschaft und das Engagement dem Schiff gegenüber, das ihn hinabzieht.
Eine Art Fieber überkam mich – ich ließ es geschehen – und fesselte mich mehrere Tage ans Bett, in denen ich mit trüben Augen dahindämmerte, spirituell zumindest, beziehungsweise hin- und hergerissen wie ein Gestrüpp im Wind. Ich befürchtete, Jodie werde mich verlassen. Sie tat es nicht, aber meine Depression ließ sie nicht unberührt. Zwei Wochen später, als ich wieder halbwegs bei Trost war, fühlten wir uns beide erschöpft wie durch eine nicht diagnostizierte Krankheit.
Ich sollte erst viel, viel später wieder mit Adam Kontakt aufnehmen, lange nachdem Jodie und ich über den Atlantik geflogen und in die Londoner Nordstadt gezogen waren.
Ein Kommen und Gehen …
Vage, aber von jetzt auf gleich vernahm ich ein durchdringendes Geräusch, bevor sich das helle Tageslicht wie ein spitzer Dolch in meine Lider bohrte. Ich stöhnte und wälzte mich hinüber auf Jodies Seite des Bettes, welche kalt war, aufgrund ihrer Abwesenheit.
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