»Paul Strohman?« Wo hatte ich den Namen gehört?
»Der Polizeichef. Warten Sie …« Earl kramte in der Mappe, ging mehrere Seiten durch und übergab mir einen ausgeschnittenen Zeitungsbericht.
Es handelte sich um eine kurze Bekanntgabe, das Präsidium in Westlake schließe den Fall bezüglich Elijah Dentmans Verschwinden ab und begnüge sich damit, dass der Junge sich verletzt habe und ertrunken sei. Neben den Zeilen prangte ein unzureichendes Schwarz-Weiß-Foto von Polizeichef Strohman. Auch wenn es nicht eben durch Schärfe glänzte, erkannte ich, dass der Mann souverän aussah und gut gebaut war. Er trug einen feingeschnittenen Anzug aus dunklem Stoff statt der erwarteten Uniform und hatte das verschlagene Grinsen eines Washingtoner Lobbyisten. Paul Strohman entsprach in keiner Weise dem Bild, das man sich vom Chef einer Polizeieinheit irgendeines Hinterwäldler-Kaffs in den Bergen machte.
Davids Gesicht erschien vor meinem geistigen Auge wie ein Schiff, das eine Nebelbank durchbrach. Ich stand wieder in seinem Wohnzimmer und er feuerte Fragen auf mich ab: »Sind Sie ein Cop? Hat Strohman Sie geschickt?«
»Behalten Sie im Hinterkopf, dass nichts von dem, was uns hier vorliegt, handfest ist. Wir haben nur ein weitere Tür geöffnet, gehen einer anderen Spur auf den Grund.«
Einem anderen Beweisstück , präzisierte ich in Gedanken.
»Genau genommen«, fuhr Earl mit einem erneuten Griff in den Akkordeonordner fort, »liest sich die Vorgeschichte der Dentmans allgemein recht betrüblich. Der Apfel fiel in ihrem Fall nicht weit vom Stamm.« Er zog weitere Seiten heraus, liniertes und von ihm selbst eng beschriebenes Papier. Er berührte fast seine Nase damit, um es lesen zu können. »Davids Schwester …«
»Veronica«, warf ich ein.
»Sie lebte in regelmäßigen Abständen in Nervenheilanstalten, zuletzt in Crownsville im Osten, bevor man den Laden vor ein paar Jahren dichtmachte.«
»Wie lange?«
»Sechs Monate, obwohl ich mir nicht sicher bin, wie genau man die Informationen nehmen darf.«
Welche Quellen er dafür herangezogen hatte, fragte ich ihn nicht.
»Wer sich in der Zeit um ihren Sohn kümmerte, konnte ich nirgendwo in Erfahrung bringen.« Earl fuhr fort, bevor ich ihn noch fragen konnte. »Ich tippe aber auf David.«
»Nicht den Vater des Kindes?«
»Den kennt ja niemand. Aber ich habe meinen Informanten Veronicas Hintergrund offenlegen lassen. Ihr polizeiliches Führungszeugnis war sauber.« Er pochte auf die Kopie von Davids Akte, die ich auf den Tisch gelegt hatte, und sprach weiter: »Diese Adresse in West Cumberland, die er als offizielle angab, ist die gleiche wie ihre. Davor lebten die beiden allem Anschein nach gemeinsam in Dundalk. Dann ein kurzer Aufenthalt in Pennsylvania –«
»Lassen Sie mich raten«, unterbrach ich. »Selbe Adresse.«
Er legte beide Hände flach auf den Plastikbezug der Tischplatte und lehnte sich so nah zu mir, dass ich seinen Bieratem roch. »Die zwei wohnen zeit ihres Lebens zusammen. Sie hat wohl ein paar Schrauben locker, wenn ihr Bruder so auf sie achtgeben muss, schätze ich.«
»Auf sie und das Kind«, ergänzte ich. »Womit verdient der Mann überhaupt sein Geld?«
»Er ist Handwerker. Ich fand heraus, dass er als Schreiner Mitglied in einer Gewerkschaft hier im Bundesstaat ist.«
Ich dachte an die behelfsmäßigen Trennwände überall in meinem Keller und das einer Gefängniszelle gleichkommende Kinderzimmer, das hinter den Gipsplatten versteckt war. Wie ich all dies Revue passieren ließ, stand Earl auf und ging noch zwei Bier aus dem Kühlschrank holen.
»Jetzt begreifen Sie auch, weshalb ich nicht will, dass etwas diese Wände verlässt«, sagte er, nachdem er sich wieder hingesetzt und mir eine Flasche angeboten hatte. »Ich ziehe diese Reportersache jetzt schon seit über zehn Jahren durch, aber auch wenn ich mich hin und wieder scherzhaft als Woodward und Bernstein bezeichne, verstehe ich doch etwas von journalistischer Recherche. Im Laufe der Zeit habe ich eine Reihe von Quellen etabliert, auf die ich zurückgreifen kann, und nichts liegt mir ferner, als jemanden, der mir nahesteht, um seinen Job zu bringen, nur weil er den Hirngespinsten eines verrückten alten Mannes nachgegeben hat.«
Ich nahm einen kräftigen Zug aus der kalten Flasche. Die Flüssigkeit erfrischte mich, es kribbelte vom Hals bis zum Steiß angenehm. Ein Geistesblitz durchfuhr mich.
»Sie wussten von Anfang an, dass etwas faul war.« Ich formulierte es nicht als Frage. »Andernfalls hätten Sie Ihre Hintermänner nicht darum gebeten, die Vergangenheit von David und Veronica zu durchleuchten.« Ich beugte mich über den Tisch. »Ich halte Sie für einen guten Journalisten, wirklich. Etwas an diesem Fall störte Sie von Anfang an, richtig?«
Earl stellte sein Bier auf den Tisch, hielt schulmeisterlich einen Finger hoch und erhob sich wieder, diesmal mit einiger Mühe. Nachdem er sich wieder zur Anrichte begeben hatte, wühlte er erneut in den Papieren. Beim Sprechen blickte er halb über die Schulter. »Reden Sie nur weiter. Ich denke, wir beide sind an einer Sache dran.«
Ich erzählte ihm von dem Zimmer im Keller und Elijahs zurückgelassenen Sachen, die hinter jener Mauer versteckt worden waren. Danach musste Earl von Ira Steins schauriger Mutmaßung erfahren, der Junge habe angeblich den toten Hund seiner Frau ausgebuddelt und sich damit aus dem Staub gemacht wie ein Grabräuber in irgendeinem alten Universal-Horrorstreifen. Ich schilderte ihm, was mir bei den Dentmans in West Cumberland widerfahren war. Er hatte aufgehört, den Papierkram zu durchsuchen, und drehte sich mit erstauntem, aber auch ein wenig neidischem Grinsen zu mir um. Zuletzt umriss ich meine beunruhigende Konfrontation mit David sowie das Gespräch mit Veronica, das wenig Erhellendes zutage gefördert hatte.
»Dass sie ihr halbes Leben Stammgast in Irrenhäusern war, wundert mich überhaupt nicht«, fasste ich zusammen. »Mit dieser Frau zu sprechen, war, als würde man mit einem von Jack Finneys Leuten reden.«
»Sind Sie sicher, dass das nicht mit ihrer Trauer um ihren Sohn zusammenhing?«
»Zuerst dachte ich das auch, aber dann … Ich sage Ihnen, bei den beiden liegt einiges im Argen. Sie wirkte ihres Bruders wegen extrem verstört.«
»Hier.« Earl hatte endlich gefunden, wonach er gesucht hatte. Er humpelte zurück zum Tisch und gab mir ein Bündel Fotos im Kleinformat.
Beim Durchsehen legte mir der alte Mann die Hand auf die Schulter. Kurz empfand ich Mitleid für ihn und kam nicht umhin, mich zu fragen, wie er zu seinem entfremdeten Sohn gekommen war.
Erst nachdem ich mehrere Bilder durchgesehen hatte, erkannte ich den Ort, an dem sie geschossen worden waren. »Das ist mein Garten. Ich habe ihn noch nicht im Sommer erlebt; all die Blätter, grünen Büsche und Blumen in voller Blüte. Haben sie die gemacht?«
»Annie Leibovitz, erinnern Sie sich?«
Eines zeigte auch den See, den der Wald ringsum wie ein schwerer Schleier einhüllte. Polizisten standen zu mehreren an der Spitze des Gewässers, gerade als zwei Taucher aus dem Wasser kamen. Den Vordergrund eines zweiten Fotos prägte der Kühlergrill eines Streifenwagens, der auf der Wiese am Fuß der Anhöhe parkte. Auf einer Reihe weiterer sah man David im Verhör mit den Beamten, deren Mützen sein Gesicht zumeist verdeckten. Das letzte Motiv gab Veronica ab, die abseits allein stand und zwischen den Bäumen nur schwerlich zu erkennen war. Sie starrte mit dem gleichen entseelten, wahnhaften Gesichtsausdruck, mit dem sie mich vor ihrer Tür empfangen hatte, vor sich hin.
»Dieses meinte ich«, bedeutete Earl hinter mir, nachdem er sich alle Fotos mit angesehen hatte. »Der Abzug jagte mir noch tagelang, nachdem ich ihn entwickelt hatte, einen Schauer über den Rücken. Wie Sie schon sagten: Es geht über das hinaus, was man von einer Mutter im Schockzustand oder in Trauer erwartet. Ich würde gerne wissen, wie sie auf Sie wirkt. Sie sind der Schriftsteller; welche Beschreibung fällt Ihnen ein?«
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