»Wir siegen immer«, sagte Mr. Gray. Er saß hinterm Lenkrad und hatte Jonesys Augen geschlossen, und in einem anderen Universum kreischte der Wind und rüttelte am Wagen. »Mach die Tür auf, Jonesy. Mach jetzt auf.«
Stille. Und dann, keine zehn Zentimeter entfernt und so überraschend wie eine Schüssel mit kaltem Wasser, die über warmer Haut ausgegossen wurde: »Friss Scheiße und stirb!«
Mr. Gray schreckte so heftig zurück, dass Jonesys Hinterkopf an das rückwärtige Fenster der Fahrerkabine knallte.
Der Schmerz kam plötzlich und schockierend, eine zweite unangenehme Überraschung.
Er schlug wieder mit der Faust zu, dann mit der anderen, dann wieder mit der ersten; er schlug auf das Lenkrad ein, und die Hupe blökte einen Morse-Code des Zorns. Als im wesentlichen emotionsloses Wesen und Angehöriger einer im wesentlichen emotionslosen Gattung hatte er sich von den emotionalen Säften seines Wirts und Gastgebers mitreißen lassen - tauchte diesmal nicht nur kurz in sie ein, sondern badete in ihnen. Und wieder ahnte er, dass dies nur geschah, weil Jonesy noch da war, ein unruhiger Tumor in dem, was ein gelassenes und auf seine Ziele konzentriertes Bewusstsein hätte sein sollen.
Mr. Gray hämmerte auf das Lenkrad ein, hasste diesen Gefühlsausbruch - was Jonesys Gedanken Koller nannten -, genoss ihn aber gleichzeitig auch. Er liebte es, wie die Hupe ertönte, wenn er mit Jonesys Fäusten darauf einschlug, liebte es, wie Jonesys Blut in Jonesys Schläfen pochte, liebte es, wie Jonesys Herz schneller schlug und wie Jonesys heisere Stimme immer und immer wieder schrie: »Du Arsch! Du Arsch!«
Und selbst noch mitten in diesem Wutausbruch wurde einem kühleren Teil von ihm klar, worin die eigentliche Gefahr bestand. Wenn sie kamen, gestalteten sie die Welten, die sie heimsuchten, nach ihrem Bilde um. So war das immer gewesen, und so waren sie nun mal.
Aber diesmal ...
Da passiert etwas mit mir, dachte Mr. Gray, und im selben Moment wurde ihm bewusst, dass das nun wirklich ein »Jonesy-Gedanke« war. Ich nehme menschliche Züge an.
Und dass dieser Gedanke durchaus einen gewissen Reiz hatte, löste bei Mr. Gray Entsetzen aus.
Jonesy schreckte aus einem Dösen auf, in dem nur die einlullende Stimme von Mr. Gray zu hören gewesen war, und sah, dass seine Hände auf dem Türknauf und dem Riegel lagen und drauf und dran waren, den Knauf zu drehen und den Riegel beiseite zu ziehen. Das dumme Schwein wollte ihn hypnotisieren und machte das gar nicht mal schlecht.
»Wir siegen immer«, sagte die Stimme hinter der Tür. Sie wirkte beruhigend, was schön war nach einem so aufreibenden Tag, klang aber auch widerlich selbstgefällig und überheblich. Der Usurpator, der keine Ruhe gab, bis er nicht alles an sich gerissen hatte ... der meinte, ein Anrecht auf alles zu haben. »Mach die Tür auf, Jonesy. Mach jetzt auf.«
Für einen Moment hätte er es fast getan. Er war wieder wach, hätte es aber trotzdem fast getan. Dann fielen ihm zwei Geräusche wieder ein: das infernalische Krachen in Petes Schädel, als sich das rote Zeug darin gespannt hatte, und das feucht platzende Geräusch, als die Spitze des Kugelschreibers durch Janas' Auge gedrungen war.
Jonesy wurde klar, dass er überhaupt nicht wach gewesen war. Aber jetzt war er es.
Jetzt war er wach.
Er nahm die Hände von der Tür und sagte, so klar und deutlich er konnte: »Friss Scheiße und stirb!« Er spürte Mr. Gray zurückschrecken. Er spürte sogar den Schmerz, als Mr. Gray an das Fenster stieß, und warum auch nicht? Schließlich waren es ja seine Nerven. Und sein Kopf, davon mal ganz abgesehen. Wenige Dinge in seinem Leben hatten ihm solches Vergnügen bereitet wie Mr. Grays empörte Verblüffung, und ihm wurde vage klar, was Mr. Gray längst wusste: Die fremde Macht in seinem Kopf hatte jetzt menschlichere Züge angenommen.
Wenn du als eigenständiges Lebewesen wiederkommen könntest, wärst du dann immer noch Mr. Gray?, fragte sich
Jonesy. Er glaubte es nicht. Mr. Pink vielleicht, aber nicht Mr. Gray.
Er wusste nicht, ob der Typ seine Monsieur-Mesmer-Nummer noch einmal ausprobieren würde, aber Jonesy beschloss, es nicht darauf ankommen zu lassen. Er machte kehrt und ging zum Bürofenster. Dabei stolperte er über eine Kiste und stieg dann über die übrigen hinweg. O Gott, tat seine Hüfte weh. Es war verrückt, solche Schmerzen zu empfinden, wenn man in seinem eigenen Kopf gefangen war (der, das hatte ihm Henry einmal versichert, gar kein Schmerzempfinden hatte, zumindest nicht, sobald man zu den grauen Zellen vordrang), aber trotzdem waren diese Schmerzen da. Er hatte irgendwo gelesen, dass Amputierte manchmal in Gliedmaßen, die es gar nicht mehr gab, schreckliche Schmerzen und unerträgliches Jucken empfanden; wahrscheinlich war das so ähnlich.
Vom Fenster aus bot sich wieder der langweilige Blick auf die mit Unkraut überwucherte, doppelspurige Auffahrt, die 1978 um das Lagerhaus der Gebrüder Tracker herumgeführt hatte. Der Himmel war weiß und bedeckt; wenn dieses Fenster in die Vergangenheit blickte, war die Zeit an einem Nachmittag stehen geblieben. Für diesen Ausblick sprach einzig und allein, dass Jonesy, wenn er hier stand, so weit wie möglich von Mr. Gray entfernt war.
Er vermutete, dass er den Ausblick durchaus ändern konnte, wenn er nur wirklich wollte; dass er hinausschauen und dabei sehen konnte, was Mr. Gray in diesem Moment mit den Augen von Gary Jones sah. Aber er hatte keine Lust dazu. Es gab da außer dem Schneesturm nichts zu sehen und außer Mr. Grays gestohlenem Zorn nichts zu empfinden.
Denk an etwas anderes, sagte er sich.
An was?
Ich weiß nicht - an irgendwas. Wie war's -
Auf dem Schreibtisch klingelte das Telefon, und das war so absonderlich wie etwas aus Alice im Wunderland, denn noch ein paar Minuten zuvor hatte es in diesem Raum gar kein Telefon gegeben und auch keinen Schreibtisch, auf dem es hätte stehen können. Nun gab es hier beides. Die hingeworfenen benutzten Gummis waren verschwunden. Der Fußboden war immer noch schmutzig, aber die Fliesen waren nicht mehr so staubig. Anscheinend hatte er so eine Art Flausmeister in seinem Kopf, einen Putzfimmler, der beschlossen hatte, der Raum solle wenigstens annehmbar sauber sein, wenn sich Jonesy schon eine Weile hier aufhalten würde. Er fand die Vorstellung beängstigend und fand es deprimierend, worauf das hindeutete.
Auf dem Schreibtisch schrillte wieder das Telefon. Jonesy nahm den Flörer ab und sagte: »Hallo?«
Bibers Stimme jagte ihm einen eiskalten Schauer über den Rücken. Ein Telefonanruf von einem Toten - so was gab es in den Filmen, die er mochte. Beziehungsweise früher gemocht hatte.
»Sein Kopf war ab, Jonesy. Er lag im Graben, und seine Augen waren voller Schlamm.«
Dann folgte ein Klicken, dann Totenstille. Jonesy legte auf und ging zurück ans Fenster. Die Auffahrt war verschwunden. Derry war verschwunden. Er sah ihre Flütte unter einem blassen, klaren, frühmorgendlichen Flimmel. Das Dach war schwarz und nicht grün, was bedeutete, dass dies ihre Flütte war, wie sie vor 1982 ausgesehen hatte, als die vier Jungs, mittlerweile stramme Fligh-School-Boys (na ja gut, Flenry war nie im eigentlichen Wortsinn »stramm« gewesen), Bibers Dad dabei geholfen hatten, das Dach mit den grünen Schindeln zu decken, die es bis zum Schluss hatte.
Aber Jonesy brauchte keine solche Eselsbrücke, um zu wissen, welches Jahr es war. Und er musste sich auch von niemandem erzählen lassen, dass die grünen Schindeln nicht mehr waren, dass ihre Flütte nicht mehr war, dass Flenry sie niedergebrannt hatte. Jeden Moment würde die Tür aufgehen und Biber herausgelaufen kommen. Es war 1978, das
Jahr, in dem das alles angefangen hatte, und jeden Moment würde Biber herausgelaufen kommen, nur bekleidet mit Boxershorts und seiner Motorradjacke mit den vielen Reißverschlüssen und den flatternden orangefarbenen Tüchern dran. Es war 1978, sie waren jung, und sie hatten sich verändert. Nichts mehr mit selbe Scheiße, anderer Tag. Dies war der Tag, an dem ihnen allmählich klar wurde, wie sehr sie sich verändert hatten.
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