»Lass ... mich ... REIN!«
Jonesy entgegnete spontan: »Bin ganz allein, bin ganz allein, ich lass dich nicht ins Haus herein.« Und dachte dann: Und du musst jetzt sagen: »Ich werde strampeln und trampeln, ich werde husten und prusten und dir dein Haus zusammenpusten!«
Aber Mr. Gray rüttelte nur noch vehementer am Türknauf. Er war es nicht gewöhnt, derart (oder überhaupt, dachte Jonesy) behindert zu werden, und war stinksauer. Janas' kurze Gegenwehr hatte ihn erstaunt, aber das hier war Widerstand auf einem gänzlich anderen Niveau.
»Wo bist du?«, rief Mr. Gray zornig. »Wie kannst du da drin sein? Komm raus!«
Jonesy antwortete nicht, stand nur inmitten der hingekippten Kartons und lauschte. Er war sich fast sicher, dass Mr. Gray nicht hereinkommen konnte, aber es war trotzdem besser, ihn nicht zu provozieren.
Und nachdem Mr. Gray noch etwas am Türknauf gerüttelt hatte, spürte Jonesy, wie er ihn in Ruhe ließ.
Jonesy ging zum Fenster, stieg dabei über die umgestürzten Kartons mit der Aufschrift duddits und derry und schaute hinaus in den Schnee und die Dunkelheit.
Mr. Gray setzte sich mit Jonesys Körper ans Steuer des Pick-up, knallte die Tür zu und trat aufs Gas. Der Wagen brauste los und verlor sofort die Straßenhaftung. Alle vier Reifen drehten durch, und der Wagen schlitterte, metallisch kreischend, mit einem Knall an die Leitplanke.
»Mist!«, brüllte Mr. Gray und griff dabei, fast ohne es zu merken, auf Jonesys Sprachschatz zurück. »Heilige Filzlaus! Knutsch mir die Kimme! Gekörnte Scheiße! Blas mir den Hobel aus!«
Dann hielt er inne und griff wieder auf Jonesys Fahrkenntnisse zu. Jonesy hatte einige Informationen über das Autofahren bei solchen Wetterverhältnissen, wenn auch längst nicht so viele wie Janas. Aber Janas war fort, seine Daten gelöscht. Was Jonesy wusste, musste reichen. Entscheidend war, das zu verlassen, was Janas in Gedanken »Q-Zone« genannt hatte. Außerhalb der Q-Zone war er in Sicherheit. Da hatte Janas keinen Zweifel gehabt.
Jonesys Fuß trat wieder aufs Gaspedal, diesmal aber viel behutsamer. Der Pickup setzte sich in Bewegung. Jonesys Hände steuerten den Chevrolet zurück auf die sich allmählich schließende Spur des Schneepflugs.
Unter dem Armaturenbrett meldete sich knackend das Funkgerät. »Tubby One, hier ist Tubby Four. Ich habe hier einen Sattelschlepper, der von der Straße abgekommen ist und umgestürzt auf dem Mittelstreifen liegt. Haben Sie verstanden?«
Mr. Gray konsultierte die Akten. Was Jonesy von militärischem Funkverkehr verstand, war kärglich und stammte größtenteils aus Büchern und etwas, das »Kino« hieß, aber vielleicht langte das ja. Er nahm das Mikrofon, tastete nach dem Knopf, den Jonesy offenbar seitlich daran vermutete, fand ihn und drückte drauf. »Verstanden«, sagte er. Würde Tubby Four merken, dass Tubby One nicht mehr Andy Janas war? Von Jonesys Akten ausgehend, glaubte Mr. Gray das kaum.
»Ein paar von uns richten ihn wieder auf und versuchen, ihn wieder fahrtüchtig zu machen. Er hat ausgerechnet das Essen geladen, verstanden?«
Mr. Gray drückte auf den Knopf. »Hat ausgerechnet das Essen geladen, verstanden.«
Es folgte eine längere Pause, lang genug, um sich zu fragen, ob er etwas Falsches gesagt hatte oder in irgendeine Falle getappt war, und dann sagte das Funkgerät: »Wir müssen wohl auf die nächsten Schneepflüge warten. Sie können genauso gut weiterfahren. Over?« Tubby Four hörte sich empört an. Jonesys Akten deuteten darauf hin, dass es daher kam, dass Janas mit seinem überragenden Fahrkönnen zu weit voraus war, um helfen zu können. Das war gut so. Er wäre sowieso weitergefahren, aber es war gut, dass er von Tubby Four die offizielle Erlaubnis dazu bekommen hatte, wenn das denn so etwas war.
Er sah in Jonesys Akten nach (die er nun sah, wie auch Jonesy sie sah: in Kisten in einem riesigen Saal) und sagte: »Verstanden. Tubby One, over and out.« Und dann schickte er noch hinterher: »Und einen schönen Abend noch.«
Dieses weiße Zeug war abscheulich. Tückisch und gefährlich. Trotzdem riskierte es Mr. Gray, ein bisschen schneller zu fahren. Solange er sich in dem Bereich aufhielt, der von den Streitkräften des Schreckgespenstes Kurtz beherrscht wurde, schwebte er in Gefahr. Sobald er aber durch das Netz geschlüpft war, würde er seinen Auftrag sehr schnell abschließen können.
Was er brauchte, hatte mit einem Ort namens Derry zu tun, und als Mr. Gray wieder in den Lagersaal ging, musste er etwas Erstaunliches feststellen: Sein unfreiwilliger Gastgeber und Wirt hatte das entweder gewusst oder geahnt, denn es waren die Derry-Akten gewesen, die Jonesy umgeräumt hatte, als Mr. Gray wiedergekommen war und ihn fast erwischt hätte.
Mr. Gray, plötzlich besorgt, durchsuchte die verbliebenen Kisten und beruhigte sich dann.
Was er brauchte, war noch da.
Neben der Kiste mit den wichtigsten Informationen lag eine andere, ganz kleine und staubige Kiste. Auf der Seite stand mit schwarzem Stift das Wort duddits geschrieben. Wenn es noch andere Duddits-Kisten gab, dann waren sie weggeräumt. Nur diese hier war übersehen worden.
Eher aus Neugier (seine Neugier hatte er sich auch aus Jonesys Gefühls-Repertoire geborgt) machte Mr. Gray sie auf. Eine knallgelbe Plastikschachtel befand sich darin. Absonderliche Figuren tollten darauf herum, Gestalten, die laut Jonesys Akten einerseits »Zeichentrickfiguren« und andererseits die »Scooby-Doos« waren. Auf einem Klebeettikett auf der Schachtel stand: ich gehöre duddits cavell, 19 maple lane,
DERRY, MAINE. WENN SICH DER JUNGE, DEM ICH GEHÖRE, VERLAUFEN HAT, RUFEN SIE
Gefolgt von einigen Zahlen, die so blass und unleserlich waren, dass er sie nicht entziffern konnte, wahrscheinlich ein Kommunikations-Code, an den sich Jonesy nicht mehr erinnerte. Mr. Gray warf den gelben Plastikbehälter, der wahrscheinlich für die Aufbewahrung von Nahrungsmitteln bestimmt war, beiseite. Das musste nichts bedeuten ... aber wenn es nichts bedeutete, warum hatte Jonesy dann sein restliches Leben aufs Spiel gesetzt, indem er die übrigen DuDDixs-Kisten (und auch einige mit der Aufschrift derry) in Sicherheit gebracht hatte?
Duddits - Kindheitsfreund. Mr. Gray wusste das von seiner ersten Begegnung mit Jonesy im »Krankenhaus« ... und wenn er gewusst hätte, zu was für einem Ärgernis sich Jonesy entwickeln würde, dann hätte er das Bewusstsein seines Wirts auf der Stelle ausgelöscht. Weder der Begriff »Kindheit« noch der Begriff »Freund« hatten für Mr. Gray irgendeinen emotionalen Wert, aber er verstand, was sie bedeuteten. Er verstand bloß nicht, inwiefern Jonesys Kindheitsfreund etwas damit zu tun haben konnte, was heute Abend passierte.
Eine mögliche Erklärung fiel ihm ein: Sein Wirt war wahnsinnig geworden. Aus seinem eigenen Körper vertrieben zu sein, hatte ihn geisteskrank gemacht, und er hatte einfach die Kisten genommen, die der Tür seiner verblüffenden Festung am nächsten standen, und hatte ihnen in seinem Wahnsinn eine Bedeutung beigemessen, die ihnen gar nicht zukam.
»Jonesy«, sagte Mr. Gray und sprach den Namen mit Jonesys Stimmbändern aus. Diese Wesen waren geniale Mechaniker (das mussten sie natürlich auch sein, um in einer so kalten Welt zu überleben), aber ihre Gedankengänge waren eigenartig und verkrüppelt: ohnehin rostige Gehirnwindungen noch in korrosive Gefühlspfützen getunkt. Ihre telepathischen Fähigkeiten waren lächerlich gering; die flüchtige Telepathie, die sie jetzt dank des Byrus und der Kim (»Leuchtfeuer« sagten sie dazu) erlebten, verwirrte und ängstigte sie. Mr. Gray konnte kaum fassen, dass sie sich noch nicht selbst ausgerottet hatten. Wesen, die zu echtem Denken nicht in der Lage waren, waren Wahnsinnige - das stand doch wohl außer Frage.
Doch immer noch keine Antwort von dem Wesen in diesem seltsamen, uneinnehmbaren Raum.
Читать дальше