Das Arctic Cat holperte und brummte einen kleinen Hang hinauf, die Kufen vergruben sich im Schnee, drückten ihn dann beiseite. Sobald sie unter dem Baldachin aus Baumkronen waren, lag kaum noch Schnee, an manchen Stellen gar keiner. Dort ratterte die Kette des Schneemobils lautstark über den gefrorenen Boden, der fast nur aus Fels und einer dünnen Erd- und Nadelschicht bestand. Sie fuhren jetzt nach Norden.
Zehn Minuten später schlugen sie hart auf einem Granitblock auf, und Pete fiel mit einem leisen Schrei vom Rücksitz. Mr. Gray nahm wieder den Gang raus. Das Leuchtfeuer hielt ebenfalls und kreiste über dem Schnee auf der Stelle. Jonesy fand, dass es matter aussah.
»Steig auf«, sagte Mr. Gray. Er hatte sich auf dem Sitz umgedreht und sah sich zu Pete um.
»Ich kann nicht«, sagte Pete. »Ich bin erledigt, Mann. Ich -«
Dann fing Pete wieder an zu heulen und um sich zu schlagen und zu treten, und seine Hände - die eine versengt, die andere zerfleischt - zuckten.
Hör auf!, schrie Jonesy. Du bringst ihn um!
Mr. Gray beachtete ihn nicht und sah nur mit tödlicher, gefühlloser Geduld zu, wie der Byrus sich spannte und an Petes Fleisch zerrte. Schließlich spürte Jonesy Mr. Gray nachgeben. Pete stand benommen auf. Er hatte eine frisch Schürfwunde auf der Wange, und darin wimmelte es bereits von Byrus. Seine Augen blickten benommen und erschöpft und schwammen in Tränen. Er stieg zurück auf das Schneemobil und legte wieder die Arme um Jonesys Taille.
Halt dich an meinem Mantel fest, flüsterte Jonesy, und als sich Mr. Gray vorbeugte und wieder einen Gang einlegte, spürte er, wie Pete zupackte. Kein Prall, kein Spiel, klar?
Kein Spiel, pflichtete Pete, sehr matt, bei.
Diesmal achtete Mr. Gray nicht darauf. Das Leuchtfeuer, das nicht mehr so hell, aber immer noch flink war, brach wieder nach Norden auf ... oder zumindest in eine Richtung, die Jonesy wie Norden vorkam. Als sich das Schneemobil dann zwischen den Bäumen hindurchschlängelte, durch dichtes Gestrüpp und an Felsbrocken vorbei, ließ ihn sein Orientierungssinn irgendwann im Stich. Hinter ihnen ertönte stetes Maschinengewehrrattern. Es hörte sich nach einem fürchterlichen Gemetzel an.
Gut eine Stunde später erfuhr Jonesy endlich, weshalb sich Mr. Gray mit Pete aufgehalten hatte. Das war, als das Leuchtfeuer, das zuletzt nur noch ein blasser Schatten seiner selbst war, endlich erlosch. Es löste sich mit einem Knall auf, der sich anhörte, als hätte jemand eine Papiertüte platzen lassen. Einige letzte Bruchstücke fielen zu Boden.
Sie befanden sich auf einem baumgesäumten Hügelkamm mitten im Nirgendwo. Vor ihnen erstreckte sich ein verschneites, bewaldetes Tal; dahinter erhoben sich erodierte Hügel mit dichtem Gestrüpp, aus dem kein einziges Eicht zu sehen war. Und zur Krönung des Ganzen ging nun auch noch die Sonne unter.
Na, da hast du uns ja wieder mal einen schönen Schlamassel eingebrockt, dachte Jonesy, konnte bei Mr. Gray aber keine Verärgerung bemerken. Mr. Gray hielt mit dem Schneemobil an, nahm den Gang raus und saß dann einfach reglos da.
Norden, sagte Mr. Gray. Aber nicht zu Jonesy.
Pete antwortete laut, mit müder, lahmer Stimme: »Woher soll ich das wissen? Ich kann nicht mal sehn, wo die Sonne untergeht! Eins meiner Augen ist im Arsch!«
Mr. Gray drehte Jonesys Kopf um, und Jonesy sah, dass Pete das linke Auge verloren hatte. Das Eid war nach oben gezogen, was zu einem töricht überraschten Gesichtsausdruck führte, und aus der Augenhöhle wuchs ein kleiner By-rus-Dschungel. Die längsten Fäden hingen heraus und strichen Pete über die bartstoppelige Wange. Weitere Fäden rankten sich in satt rotgoldenen Strähnen durch sein schütteres Haar.
Du weißt es.
»Vielleicht schon«, sagte Pete. »Und vielleicht will ich dir nicht sagen, wo es langgeht.«
Und wieso nicht?
»Weil ich bezweifle, dass es uns gut bekommt, was du vorhast, du Arschgesicht«, sagte Pete, und Jonesy verspürte einen absurden Stolz.
Jonesy sah das Gewächs in Petes Augenhöhle zucken. Pete schrie und hielt sich das Gesicht. Für einen kurzen, trotzdem viel zu langen Moment stellte sich Jonesy bildlich vor, wie sich die rotgoldenen Tentakeln von der Augenhöhle in Petes Hirn vorgruben, wo sie sich wie kräftige Finger um einen grauen Schwamm schlössen.
Mach schon, Pete, sag's ihm!, schrie Jonesy. Um Himmels willen, sag's ihm!
Der Byrus gab wieder Ruhe. Pete ließ die Hand von seinem Gesicht sinken, das nun dort, wo es nicht rötlich golden war, Totenblässe zeigte. »Wo bist du, Jonesy?«, fragte er. »Ist da Platz für zwei?«
Die kurze Antwort darauf lautete natürlich nein. Jonesy verstand nicht, was mit ihm passiert war, und wusste nur, dass sein Überleben - dieser letzte Kern von Autonomie -davon abhing, dass er genau dort blieb, wo er war. Wenn er auch nur die Tür öffnete, war es aus mit ihm.
Pete nickte. »Kann ich mir auch nicht vorstellen«, sagte er und wandte sich dann an den anderen. »Aber tu mir nicht mehr weh, du.«
Mr. Gray saß nur da, betrachtete Pete mit Jonesys Augen und versprach gar nichts.
Pete seufzte, hob dann seine verbrannte linke Hand und streckte einen Finger aus. Er schloss das verbliebene Auge und fing an, mit dem Finger zu pendeln. Und während er das tat, verstand Jonesy beinahe alles. Wie hieß das kleine Mädchen? Rinkenhauer, nicht wahr? Ja. An ihren Vornamen konnte er sich nicht erinnern, aber einen so plumpen Nachnamen wie Rinkenhauer vergaß man nicht so schnell. Sie war ebenfalls auf die Mary-M.-Snowe-Sonderschule, die Be-hindi-Akademie, gegangen, nur dass Duddits damals schon auf die Berufsschule ging. Und Pete? Pete hatte sich immer schon gut Dinge merken können, aber nachdem sie Duddits kennen gelernt hatten -
Die Worte fielen Jonesy wieder ein, als er sich in seiner schmutzigen kleinen Zelle hinkauerte und hinausschaute in die Welt, die ihm geraubt war ... nur dass es eigentlich keine richtigen Wörter waren, nur Vokal-Laute, so eigenartig schön:
les uh ieh Inije, let? - Siehst du die Linie, Pete?
Pete hatte verträumt-verblüfft-verwundert geguckt und ja gesagt, ja, er sehe es. Und auch damals hatte er diese Bewegung mit dem Finger gemacht, dieses Pendeln, genau wie jetzt.
Der Finger hielt inne, die Fingerspitze zitterte noch nach, wie eine Wünschelrute an einer Wasserader. Dann wies Pete leicht nach rechts auf den Hügelkamm.
»Da lang«, sagte er und ließ die Hand sinken. »Da geht es nach Norden. Genau auf diese Felswand zu. Wo in der Mitte die Kiefer steht. Siehst du?«
Ja, ich sehe. Mr. Gray drehte sich nach vorn und legte wieder einen Gang ein. Jonesy fragte sich kurz, wie viel Benzin wohl noch im Tank war.
»Darf ich jetzt absteigen?« Was natürlich heißen sollte: Darf ich jetzt sterben?
Nein.
Und dann fuhren sie weiter, und Pete hielt sich mit letzter Kraft an Jonesys Mantel fest.
11
Sie umfuhren die Felswand und erklommen die Kuppe des höchsten Hügels dahinter, wo Mr. Gray eine Pause einlegte, damit ihnen sein Ersatz-Leuchtfeuer wieder den Weg weisen konnte. Pete tat das, und dann fuhren sie weiter und folgten einer Route, die leicht nach Westen abwich. Das Tageslicht verschwand zusehends. Einmal hörten sie Hubschrauber -mindestens zwei, vielleicht aber auch vier - auf sich zukommen. Mr. Gray fuhr das Schneemobil ins dichte Unterholz, ohne dabei auf die Zweige zu achten, die Jonesy ins Gesicht peitschten und blutige Striemen auf seinen Wangen und seiner Stirn hinterließen. Pete fiel wieder vom Rücksitz. Mr. Gray schaltete den Motor ab und schleifte den stöhnenden Pete, der kaum noch bei Bewusstsein war, unter den dichtesten der Sträucher. So warteten sie ab, bis die Hubschrauber vorübergeflogen waren. Jonesy bekam mit, wie Mr. Gray kurz mit einem der Besatzungsmitglieder Verbindung aufnahm, ihn scannte und dabei vielleicht die Kenntnisse des Mannes mit dem verglich, was ihm Pete erzählt hatte. Als die Hubschrauber im Südwesten verschwunden waren, anscheinend flogen sie zu ihrer Basis zurück, ließ Mr. Gray das Schneemobil wieder an, und sie fuhren weiter. Es hatte wieder angefangen zu schneien.
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