War es nicht. Und da ist durchaus ein Zimmer. Aber kein Krankenhauszimmer. Kein Bett, kein Fernseher, kein Infusionsständer. Es gibt eigentlich überhaupt nicht sehr viel darin; nur ein schwarzes Brett, an dem zwei Dinge festgesteckt sind: eine Landkarte des nördlichen Neuengland, auf der bestimmte Routen verzeichnet sind - die Routen der Gebrüder Tracker -und das Polaroidfoto eines Mädchens, das seinen Rock hebt und einen goldfarbenen Muff herzeigt. Er schaut von dem Fenster aus auf die Deep Cut Road. Es ist, da ist sich Jonesy ziemlich sicher, das Fenster des Krankenhauszimmers. Aber dieses Krankenhauszimmer taugte nichts. Er musste da raus, denn -
Das Krankenhauszimmer war nicht sicher, denkt Jonesy ... als wäre das hier sicher, als wäre er irgendwo sicher. Und doch ... ist es hier ... vielleicht ... sicherer. Das hier ist seine letzte Zuflucht, und er hat es geschmückt mit dem Bild, das sie damals alle zu sehen hofften, als sie 1978 diese Auffahrt hochgingen. Tina Jean Sloppinger oder wie sie noch hieß.
Manches von dem, was ich gesehen habe, war real... waren tatsächliche, wiedergewonnene Erinnerungen, wie Henry sagen würde. Ich glaube, ich habe Duddits an diesem Tag wirklich gesehen. Deshalb bin ich auf die Straße gerannt, ohne mich umzusehn. Und was Mr. Gray angeht... Der bin ich jetzt. Nicht wahr? Bis auf den Teil von mir in diesem staubigen, leeren, uninteressanten Raum mit den benutzten Gummis auf dem Boden und dem Bild eines Mädchens am schwarzen Brett, bin ich ganz Mr. Gray. Ist es nicht so?
Keine Antwort. Und mehr will er eigentlich auch nicht hören.
Aber wie ist das passiert? Wie bin ich hierher gekommen? Und wieso bin ich hier? Was soll das?
Immer noch keine Antworten, und auf diese Fragen weiß er selbst auch keine. Er ist nur froh, einen Ort zu haben, an dem er immer noch er selbst sein kann, und bestürzt darüber, wie einfach sein übriges Leben entführt wurde. Und wieder wünscht er sich mit bitterer Ernsthaftigkeit, er hätte McCarthy erschossen.
8
Eine mächtige Explosion zerriss den Tag, und obwohl sie sich meilenweit entfernt ereignet haben musste, war sie doch so stark, dass noch hier der Schnee von den Ästen rutschte. Die Gestalt auf dem Schneemobil sah sich nicht einmal um. Es war das Schiff. Die Soldaten hatten es in die Luft gejagt. Die Byrum waren fort.
Einige Minuten später kam rechts der eingestürzte Unterstand in Sicht. Davor im Schnee, mit einem Stiefel immer noch unter dem Wellblechdach, lag Pete. Er sah tot aus, war es aber nicht. Sich tot zu stellen hätte nichts gebracht; nicht bei diesem Spiel; er konnte Pete denken hören. Und als er auf dem Schneemobil vorfuhr und den Gang herausnahm, hob Pete den Kopf und zeigte bei einem humorlosen Grinsen seine verbliebenen Zähne. Sein linker Parka-Ärmel war geschwärzt und angesengt. An seiner rechten Hand war offenbar nur noch ein funktionstüchtiger Finger übrig. Seine gesamte sichtbare Haut war mit Byrus übertupft.
»Du bist nicht Jonesy«, sagte Pete. »Was hast du mit Jonesy gemacht?«
»Steig auf, Pete«, sagte Mr. Gray.
»Ich will nicht mit dir fahren.« Pete hob die rechte Hand -die zerfetzten Finger, die rotgoldnen Byrusklumpen - und
wischte sich damit über die Stirn. »Verpiss dich. Kratz die Kurve.«
Mr. Gray senkte den Kopf, der einst Jonesy gehört hatte (Jonesy sah dem Ganzen vom Fenster seines Schlupfwinkels im verwaisten Lagerhaus der Gebrüder Tracker aus zu, unfähig zu helfen oder irgendwie einzugreifen), und starrte Pete an. Pete fing an zu schreien, als sich der Byrus, der auf seinem ganzen Körper wuchs, zusammenzog und sich die Wurzeln dieses Zeugs in seine Muskeln und Nerven gruben. Der Stiefel, der unter dem eingestürzten Wellblechdach eingeklemmt war, kam frei, und Pete krampfte sich, immer noch schreiend, in embryonaler Haltung zusammen. Frisches Blut ergoss sich aus seinem Mund und seiner Nase. Als er wieder aufschrie, platzten ihm zwei weitere Zähne aus dem Mund. »Steig auf, Pete.«
Weinend und sich die übel zugerichtete rechte Hand vor die Brust haltend, versuchte Pete aufzustehen. Der erste Versuch misslang; er kippte wieder in den Schnee. Mr. Gray sagte nichts dazu, saß einfach nur auf dem im Leerlauf laufenden Schneemobil und sah zu.
Jonesy spürte Petes Schmerz und Verzweiflung und jämmerliche Angst. Die Angst war bei weitem das Schlimmste, und er beschloss, ein Risiko einzugehen.
Pete.
Nur ein Flüstern, aber Pete hörte es. Er sah hoch, sein Gesicht abgehärmt und mit Pilz überzogen - das, was Mr. Gray Byrus nannte. Als sich Pete die Lippen leckte, sah Jonesy, dass er ihm auch auf der Zunge wuchs. Eine Pilzkrankheit aus den Tiefen des Alls. Pete Moore hatte einmal Astronaut werden wollen. Er hatte sich einmal für e'nen, der kleiner und schwächer war, gegen ein paar größere Jungs zur Wehr gesetzt. Das hier hatte er nicht verdient.
Kein Prall, kein Spiel. etelächelte fast. Es war gleichwohl schön wie herzzerrei-
ßend. Jetzt schaffte er es aufzustehen, und er trottete langsam auf das Schneemobil zu.
In dem verwaisten Büro, in das er verbannt war, sah Jonesy, wie der Türknauf hin und her gedreht wurde. Was soll das bedeuten?, fragte Mr. Gray. Was ist kein Prall, kein Spiel? Was machst du da drin? Komm wieder mit ins Krankenhaus und schau mit mir fern. Wie bist du da überhaupt reingekommen?
Jetzt war es an Jonesy, nicht zu antworten, und er tat es mit großem Vergnügen.
Ich komme da rein, sagte Mr. Gray. Wenn ich so weit bin, komme ich da rein. Du bildest dir vielleicht ein, du könntest vor mir die Tür verriegeln, aber da täuschst du dich.
Jonesy verhielt sich still - es nützte nichts, das Wesen zu provozieren, das zurzeit über seinen Körper herrschte - und glaubte nicht, dass er sich täuschte. Andererseits wagte er nicht, das Zimmer zu verlassen; wenn er das versuchte, würde er assimiliert werden. Er war nur ein Kern in dieser Wolke, ein unverdauter Happen in den Eingeweiden eines Außerirdischen.
Er hielt sich am besten bedeckt.
9
Pete stieg hinter Mr. Gray auf und legte die Arme um Jonesys Taille. Zehn Minuten später fuhren sie an dem umgestürzten Scout vorbei, und da verstand Jonesy, warum Henry und Pete nicht vom Einkäufen wiedergekommen waren. Es war ein Wunder, dass sie das überhaupt überlebt hatten. Er hätte sich das gern näher angesehen, aber Mr. Gray bremste nicht ab und fuhr einfach weiter, und die Kufen des Schneemobils glitten ruckelnd über den Mittelstreifen zwischen den beiden zugeschneiten Fahrrinnen.
Gut drei Meilen hinter dem Scout kamen sie auf eine Anhöhe, und da sah Jonesy eine strahlend helle, gelbweiße Lichtkugel keine dreißig Zentimeter über der Straße schweben und auf sie warten. Sie sah so heiß aus wie die Flamme eines Schweißgeräts, war es aber offenbar nicht; der Schnee darunter war nicht geschmolzen. Das war bestimmt eines der Lichter, die der Biber und er durch die Wolken hatten huschen sehen, über den fliehenden Tieren, die aus der Schlucht heraufgekommen waren.
Das stimmt, sagte Mr. Gray. Was bei euch Leuchtfeuer genannt wird. Das ist eins der letzten. Vielleicht das allerletzte.
Jonesy sagte nichts, schaute nur unverwandt aus dem Fenster seiner Büro-Zelle. Er spürte Petes Arme an seiner Taille, die sich jetzt eigentlich nur noch instinktiv festhielten, so wie sich ein fast erledigter Boxer an seinen Gegner klammert, um nicht zu Boden zu gehen. Der Kopf, der an seinem Rücken lehnte, war schwer wie ein Stein. Pete war jetzt ein Nährboden für den Byrus, und der Byrus fühlte sich bei ihm wohl; die Welt war kalt, und Pete war warm. Mr. Gray hatte anscheinend irgendwas mit ihm vor - doch Jonesy wusste nicht was.
Das Leuchtfeuer führte sie noch gut eine halbe Meile weiter die Straße entlang und bog dann in den Wald ab. Es schlüpfte zwischen zwei großen Kiefern hindurch und wartete dann dort auf sie, knapp über dem Schnee kreisend. Jonesy hörte, wie Mr. Gray Pete anwies, sich gut festzuhalten.
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