Der Boden hier ist feucht, aber nicht morastig, und sie können sowohl ihren Fußspuren als auch einer Spur von Zweigen folgen, die sie beim Gehen abgebrochen haben muss, und sie wollen sich gar nicht ausmalen, welche Verletzungen sich ihre nackte Haut dabei zugezogen hat. Doch der Beweis für diese Verletzungen ist vorhanden, und sie müssen es sehen, ob sie wollen oder nicht: Das Blut auf den Zweigen und Steinen ist ein Teil ihrer Spur.
Eine Meile hinter dem Ende der East Street kommen sie zu einem Steingebäude, das auf einer Felsnase steht. Es erhebt sich am Mount Pomery über das Ostufer des Sees. Dieses Gebäude beherbergt den Schacht zwölf und ist mit dem Auto nur von Norden aus zu erreichen. Und warum Ilena oder Elaina nicht von Norden aus hierher gekommen ist, wird immer rätselhaft bleiben.
Das Aquädukt, das am Quabbin-See beginnt, verläuft fünfundsechzig Meilen schnurstracks ostwärts bis nach Boston und nimmt dabei aus den Reservoiren Wachusett und Sudbury noch weiteres Wasser auf (diese beiden Quellen sind nicht so ergiebig und nicht ganz so rein). Es gibt keine Pumpen; das Rohr des Aquädukts, das vier Meter hoch und drei Meter breit ist, erledigt das von allein. Die Bostoner Wasserversorgung beruht auf schlichter Schwerkraftspeisung, einer Technik, welche die Ägypter schon vor 3500 Jahren eingesetzt haben. Zwischen der Erdoberfläche und dem unterirdischen Aquädukt verlaufen insgesamt zwölf vertikale Schächte. Sie dienen der Luftversorgung und dem Druckausgleich. Sie dienen auch als Zugang für den Fall, dass das Aquädukt verstopft. Schacht zwölf, der dem Reservoir am nächsten ist, wird auch als Zuflussschacht bezeichnet. Hier
werden Wasserproben entnommen, und auch die Tugend mancher Frau wurde hier schon auf die Probe gestellt (das Steingebäude ist nicht verschlossen und bei Liebespaaren eine beliebte Kanu-Anlegestelle).
Auf der untersten der acht Stufen, die zur Tür des Schachthauses hinaufführen, finden sie, ordentlich zusammengelegt, die Jeans der Frau. Auf der obersten Stufe liegt ein schlichter weißer Baumwollslip. Die Tür steht offen. Die Männer schauen einander betreten an, und keiner sagt ein Wort. Sie ahnen schon, was sie drinnen finden werden: eine tote, nackte Russin.
Doch dem ist nicht so. Der runde Eisendeckel auf dem Schacht zwölf ist eben so weit verschoben worden, dass auf der Seeseite des Schachts eine sichelförmige Lücke entstanden ist. Dahinter liegt die Brechstange, mit der die Frau den Deckel aufgehebelt hat - normalerweise steht sie mit ein paar anderen Werkzeugen hinter der Tür an der Wand. Und hinter der Brechstange liegt die Handtasche der Russin. Darauf liegt ihre aufgeschlagene Brieftasche. Und auf der Brieftasche - sozusagen die Spitze der Pyramide - liegt ihr Reisepass. Daraus ragt ein Zettel hervor, auf dem etwas auf Russisch gekrakelt ist. Die Männer halten es erst für den Abschiedsbrief einer Selbstmörderin, aber übersetzt erweist es sich als nichts weiter als die Wegbeschreibung, die sie bekommen hat. Unten drunter hatte sie geschrieben: Wenn Straße endet, am Ufer entlanggehen. Und genau das hatte sie getan und sich dabei Stück um Stück ausgezogen und nicht auf die Zweige geachtet, die sie zerkratzten.
Die Männer stehen ratlos um die nur teilweise bedeckte Schachtöffnung herum und lauschen dem Plätschern des Wassers, das hier seinen Weg zu den Wasserhähnen, Springbrunnen und Gartenschläuchen von Boston beginnt. Es ist ein dumpfes Geräusch, und das hat einen guten Grund: Der Schacht ist vierzig Meter tief. Die Männer verstehen zwar nicht, warum sie es unbedingt auf diese Weise tun wollte, verstehen aber ganz deutlich, was sie da getan hat, können sie förmlich mit in den Schacht baumelnden Füßen da auf dem Steinboden sitzen sehen. Sie schaut sich vielleicht noch ein letztes Mal um, ob ihre Brieftasche und ihr Reisepass auch noch dort liegen, wo sie sie hingelegt hat. Sie will, dass jemand erfährt, wer auf diesem Wege aus dem Leben geschieden ist, und das hat etwas fürchterlich Trauriges an sich. Ein Blick noch zurück, und dann rutscht sie hinein in die Lücke zwischen dem beiseite geschobenen Deckel und dem Rand des Schachts. Vielleicht hat sie sich die Nase zugehalten wie ein Kind beim Sprung ins Schwimmbecken. Vielleicht auch nicht. Jedenfalls ist sie im Handumdrehen verschwunden. Hallo Dunkelheit, alte Freundin.
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Die letzten Worte des alten Mr. Beckwith zu diesem Thema (ehe er dann mit seinem Postauto weiterfuhr) waren: Was man so hört, werden die Leute in Boston sie so um den Valentinstag rum in ihrem Morgenkaffee trinken. Dann hatte er Jonesy angegrinst. Ich persönlich rühr dieses Wasser ja sowieso nicht an. Ich halte mich lieber an Bier.
In Massachusetts spricht man das, wie auch in Australien, Beah aus.
12
Jonesy hatte die Wände seines Büros jetzt zwölf- oder vierzehnmal abgeschritten. Er blieb kurz hinter seinem Schreibtischstuhl stehen, rieb sich gedankenverloren die Hüfte und ging dann wieder los, immer noch zählend, der gute, alte, zwanghaft verhaltensgestörte Jonesy.
Eins ... zwei... drei...
Die Geschichte mit der Russin war bestimmt ein ausgezeichnetes Beispiel für kleinstädtische Gruselstorys (die sonst auch gern von Spukhäusern handelten, in denen sich mehrere Morde ereignet hatten, oder die an den Schauplätzen entsetzlicher Verkehrsunfälle spielten) und erklärte sicherlich auch, was Mr. Gray mit Lad, dem unglückseligen Border Collie, vorhatte, aber was nützte es ihm schon zu wissen, wohin Mr. Gray wollte? Schließlich ...
Wieder hinter dem Stuhl, achtundvierzig, neunundvierzig, fünfzig, und dann: Warte mal, das gibt's doch nicht. Als er die Wände zum ersten Mal abgegangen war, hatte er doch nur vierunddreißig Schritte gebraucht, nicht wahr? Wie konnten es denn jetzt fünfzig sein? Er schlurfte nicht und machte keine Tippelschritte oder so, also wie -
Du hast das Zimmer vergrößert. Du bist es abgeschritten und hast es dadurch größer gemacht. Weil du so rastlos warst. Es ist ja schließlich dein Zimmer. Ich wette, du könntest es so groß machen wie den Ballsaal im Waldorf-Astoria, wenn du wolltest... und Mr. Gray könnte dich nicht daran hindern.
»Ist das möglich?«, flüsterte Jonesy. Er stand neben seinem Schreibtisch, eine Hand auf dem Rücken, als würde er für ein Porträt Modell stehen. Er musste sich diese Frage gar nicht beantworten; er musste sich nur umschauen. Der Raum war jetzt eindeutig größer.
Henry kam. Wenn er Duddits dabeihatte, dann war es einfach für ihn, Mr. Gray zu verfolgen, egal wie oft Mr. Gray das Fahrzeug wechselte, denn Duddits sah die Linie. Er hatte sie in einem Traum zu Richie Grenadeau geführt, und später hatte er sie in der Realität zu Josie Rinkenhauer geführt, und er konnte Henry nun so einfach den Weg weisen, wie ein Jagdhund einen Jäger zu einem Fuchsbau führte. Das Problem war eher der Vorsprung, dieser verdammte Vorsprung, den Mr. Gray hatte. Mindestens eine Stunde. Vielleicht sogar mehr. Und wenn Mr. Gray den Hund erst einmal in den Schacht zwölf geworfen hatte, war alles zappendüster. Es wäre zwar - theoretisch - noch Zeit, die Wasserversorgung von Boston zu sperren, aber würde Henry irgend] emanden davon überzeugen können, etwas derart Weitreichendes und Störendes zu unternehmen? Jonesy bezweifelte es. Und was war mit den ganzen Menschen an der Strecke, die das Wasser fast ohne Verzögerung trinken konnten? 6500 in Ware, 11000 in Athol, über 150000 in Worcester. Bei denen war es schon in Wochen, nicht erst in Monaten. Und bei manchen schon in einigen Tagen.
Gab es irgendeine Möglichkeit, dieses Schwein zu bremsen und damit Henry die Chance zu geben, ihn einzuholen?
Jonesy schaute zum Traumfänger hoch, und in diesem Moment änderte sich etwas im Zimmer - er hörte fast so etwas wie ein Seufzen, ein Geräusch, wie Geister es angeblich bei Seancen machten. Aber das hier war kein Geist, und Jonesy spürte ein Prickeln in den Armen. Gleichzeitig traten ihm Tränen in die Augen. Ein Satz von Thomas Wolfe fiel ihm ein: Verloren - ein Stein, ein Blatt, eine nie gefundene Tür. Thomas Wolfe, dessen These immer gewesen war, man könne nie wieder nach Hause gelangen.
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