Er stand auf und ging einmal an den vier Wänden seines Büros entlang. Es waren vierunddreißig Schritte. Eine verdammt kurze Rundreise. Aber immer noch größer als eine durchschnittliche Gefängniszelle; die Jungs in Walpole, Dan-vers oder Shawshank würden sich förmlich die Finger danach lecken. In der Mitte des Zimmers tanzte der Traumfänger und drehte sich. Ein Teil von Jonesys Geist zählte Schritte; ein anderer rätselte, wie nahe sie der Ausfahrt 8 schon waren.
Einunddreißig, zweiunddreißig, dreiunddreißig, vierunddreißig. Und da stand er wieder hinter seinem Stuhl. Start frei zur zweiten Runde.
Bald waren sie in Ware ... und würden dort nicht anhalten. Im Gegensatz zu der Russin wusste Mr. Gray ganz genau, wohin er wollte.
unddreißig, sechsunddreißig. Wieder hinter seinem Stuhl und bereit zur nächsten Runde.
Carla und er hatten drei Kinder, als sie dreißig wurden (das vierte folgte dann im Jahr 2000), und hatten nicht damit gerechnet, in näherer Zukunft mal ein Ferienhaus zu besitzen, nicht einmal ein so bescheidenes wie das Cottage in der Osborne Road in North Ware. Dann hatte in seiner Fakultät ein Umbruch stattgefunden. Ein guter Freund von ihm rückte auf einen leitenden Posten vor, und Jonesy wurde drei Jahre früher zum außerordentlichen Professor berufen, als er sich das in seinen kühnsten Plänen ausgemalt hatte. Der Gehaltssprung war beträchtlich.
Fünfunddreißig, sechsunddreißig, siebenunddreißig, achtunddreißig, und wieder hinter seinem Stuhl. Das tat ihm gut. Er ging einfach nur in seiner Zelle auf und ab, weiter nichts, aber es beruhigte ihn.
Im gleichen Jahr war Carlas Großmutter gestorben, und ein beträchtlicher Besitz wurde zwischen Carla und ihrer Schwester aufgeteilt, da die näheren Blutsverwandten der Generation dazwischen bereits verstorben waren. Daher hatten sie das Ferienhaus, und in diesem Sommer waren sie mit den Kindern zum Winsor-Damm gefahren. Von dort aus hatten sie an einer der regelmäßig stattfindenden Wanderungen teilgenommen. Ihr Guide, ein Angestellter der
Wasserwerke, der eine laubgrüne Uniform trug, hatte ihnen erzählt, das Gebiet rund um den Quabbin-Stausee werde auch als »verwildertes Land« bezeichnet und sei das größte Adlernistgebiet in ganz Massachusetts. (John und Misha, ihre beiden Älteren, hatten gehofft, ein, zwei Adler zu sehen, waren aber enttäuscht worden.) Der Stausee war in den Dreißigerjahren entstanden, als man drei landwirtschaftliche Gemeinden überflutete, die alle einen kleinen Marktflecken hatten. Damals war das Land rund um den See erschlossen gewesen. In den gut sechzig Jahren seither war es wieder zu dem geworden, was wohl ganz Neuengland einmal gewesen war, ehe hier Mitte des 17. Jahrhunderts Ackerbau und Handwerk Einzug gehalten hatten. Ein Gewirr ausgefurchter, ungepflasterter Straßen führte am Ostufer des Sees entlang - einem der saubersten Trinkwasser-Reservoire Nordamerikas, wie ihr Guide behauptet hatte -, aber weiter gab es dort nichts. Wenn man am Ostufer über Schacht zwölf hinauswollte, brauchte man Wanderstiefel. Das hatte ihnen der Guide erzählt. Lorrington hatte er geheißen.
An der Wanderung hatten noch gut ein Dutzend andere Leute teilgenommen, und mittlerweile waren sie auch wieder an ihrem Ausgangspunkt angegelangt. Sie hatten am Rande der Straße gestanden, die über den Winsor-Damm verlief, und hatten nach Norden auf den See hinausgeschaut (das strahlende Blau des Quabbin im Sonnenschein, wie es millionenfach funkelte, und Joey war schnell in der Papoo-se-Babytrage auf Jonesys Rücken eingeschlafen). Lorrington wollte eben seinen Sermon beenden und allen noch einen schönen Tag wünschen, da hob ein Typ, der ein Rutgers-Sweatshirt trug, schuljungenhaft die Hand und sagte: Schacht zwölf. Ist das nicht, wo die russische Frau... ?
Achtunddreißig, neununddreißig, vierzig, einundvierzig -und wieder zurück hinter seinem Schreibtischstuhl. Er zählte einfach, ohne sich bei den Zahlen groß etwas zu denken, und das machte er oft so. Carla meinte, es wäre ein Anzeichen für eine zwanghafte Verhaltensstörung. Das glaubte Jonesy nicht. Das Zählen beruhigte ihn, und deshalb brach er gleich zu einer neuen Runde auf.
Lorrington hatte bei dem Wort »russische Frau« leicht verkniffen geguckt. Das gehörte anscheinend nicht zu seinem Vortrag, zählte nicht zu den netten Erinnerungen, die die Touristen mit nach Hause nehmen sollten. Je nachdem, durch welche städtischen Rohre es auf den letzten acht bis zehn Meilen seiner Reise floss, konnte das Bostoner Leitungswasser eines der reinsten und besten weltweit sein - das war die Lehre, die sie verbreiten sollten.
Darüber weiß ich wirklich nicht viel, Sir, hatte Lorrington gesagt, und Jonesy hatte gedacht: Schau einer an. Wenn wir unseren Führer da mai nicht bei einer kleinen Flunkerei ertappt haben.
Einundvierzig, zweiundvierzig, dreiundvierzig, und wieder hinter seinem Stuhl und bereit, von vorne anzufangen. Er ging jetzt ein wenig schneller. Hatte die Hände hinterm Rücken verschränkt wie ein Kapitän, der das Vorderdeck abschritt ... oder nach einer Meuterei in der Arrestzelle seines Schiffs auf und ab ging. Ja, das wohl eher.
Als Geschichtslehrer war Jonesy von Haus aus neugierig. Am Tag nach der Wanderung war er in die Bibliothek gegangen, hatte in der Lokalzeitung nach der Geschichte gesucht und sie auch gefunden. Der Artikel war kurz und enthielt nur wenige Details - Berichte über Gartenpartys in der gleichen Zeitung waren viel ausführlicher -, aber ihr Postbote wusste mehr und erzählte es ihnen gern. Der alte Mr. Beckwith. Jonesy erinnerte sich immer noch an seine letzten Worte, ehe er seinen blauweißen Postwagen wieder in Gang setzte und darin die Osborne Road hinunter zu dem nächsten einsamen Briefkasten fuhr; auf der Südseite des Sees gab es im Sommer viel Post auszutragen. Jonesy ging zurück zum Cottage, ihrem unerwarteten Geschenk, und dachte, dass es
kein Wunder sei, dass Lorrington nicht über die Russin hatte reden wollen.
Denn das war keine Werbung.
10
Ihr Name ist entweder Ilena oder Elaina Timarova - da gibt es unterschiedliche Angaben. Sie taucht im Frühherbst 1995 in einem Ford Escort mit einem diskreten gelben Hertz-Aufkleber auf der Windschutzscheibe in Ware auf. Der Wagen erweist sich als gestohlen, und die ebenso aus der Luft gegriffene wie pikante Story macht die Runde, sie habe sich ihn am Flughafen von Boston besorgt, sei durch sexuelle Gefälligkeiten in den Besitz der Schlüssel gelangt. Wer weiß. Es hätte sich so abgespielt haben können.
Wie dem auch sei - sie ist eindeutig geistig verwirrt, nicht ganz richtig im Kopf. Jemand erinnert sich, dass sie eine Schramme an der Wange hatte, ein anderer, dass ihre Bluse falsch geknöpft war. Sie spricht kaum Englisch, gerade genug, um zu bekommen, was sie will: eine Wegbeschreibung zum Quabbin-Stausee. Die notiert sie (auf Russisch) auf einem Zettel. An diesem Abend, als die Straße über den Win-sor-Damm geschlossen wird, wird der Ford Escort an einem Picknickareal in Goodnough Dike gesehen. Als der Wagen am nächsten Morgen immer noch dort steht, machen sich zwei Männer von den Wasserwerken (und Lorrington war vielleicht einer von ihnen) und zwei Förster auf die Suche nach ihr.
Zwei Meilen die East Street hinauf finden sie ihre Schuhe. Zwei Meilen weiter, wo die Asphaltierung der East Street endet (die sich am Ostufer des Sees durch die Wildnis schlängelt und eigentlich gar keine richtige Straße ist, sondern eher die hiesige Form der Deep Cut Road), finden sie ihre Bluse ... Oh-oh. Zwei Meilen hinter der weggeworfenen Bluse endet die East Street, und ein ausgefurchter Holzfällerweg -die Fitzpatrick Road - führt vom Seeufer fort. Der Such-trupp will eben auf diesem Weg weitergehen, als einer von ihnen in Ufernähe etwas Rosafarbenes an einem Ast hängen sieht. Es erweist sich als der BH der Dame.
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