Er wusste es.
Mit den T-Shirts immer noch vor dem Gesicht und seinen Geruch in der Nase, fing Roberta an zu weinen.
Kurtz war (größtenteils) guter Laune gewesen, bis er dann im grauen Morgenlicht die blinkenden Signallichter und das Blaulicht der Polizeifahrzeuge sah und dahinter einen riesenhaften Sattelzug, der wie ein toter Dinosaurier auf der Seite lag. Vor ihnen tauchte ein Polizist auf, der so eingemummelt war, dass man von seinem Gesicht nichts mehr erkannte, und winkte sie zu einer Ausfahrt hinüber.
»Mist!«, spie Kurtz. Er hätte große Lust gehabt, seine Dienstpistole zu ziehen und sich den Weg frei zu schießen. Er wusste, dass das in einem Desaster geendet hätte - bei dem liegen gebliebenen Laster liefen weitere Polizisten herum -, aber trotzdem verspürte er dieses fast unbezähmbare Verlangen. Sie waren so nah dran! Sie holten immer mehr auf, Himmelherrgott noch mal! Und dann wurden sie auf diese Weise aufgehalten! »Mist, Mist, Mist!«
»Was soll ich tun, Boss?«, fragte Freddy. Er saß reglos am Steuer und hatte seine Waffe, ein automatisches Gewehr, auf dem Schoß liegen. »Wenn ich voll Stoff gebe, können wir rechts vorbeirauschen. Dann sind wir in einer Minute hier weg.«
Wiederum musste Kurtz gegen das Verlangen ankämpfen, einfach zu sagen: Ja, geben Sie Gas, Freddy, und wenn sich einer dieser Bullen in den Weg stellt, dann machen Sie ihn platt. Freddy konnte vielleicht an dem Laster vorbeikommen ... aber vielleicht auch nicht. Er war doch kein so guter Fahrer, wie er glaubte, das hatte Kurtz bereits festgestellt. Wie viel zu viele Piloten glaubte Freddy fälschlicherweise, dass aus seinen Flugkünsten automatisch ebensolche Fahrkünste resultierten. Und selbst wenn sie vorbeikamen, würden sie doch auffallen. Und das war nicht akzeptabel, nicht nachdem General Waschlappen Randall den Befehl zum Rückzug gegeben hatte. Sein Freifahrtschein aus dem Knast war eingezogen worden. Er war jetzt gewissermaßen Bürgerwehr.
Ich muss jetzt klug sein, dachte er. Dafür bin ich ja schließlich bekannt.
»Sein Sie ein braver Junge, und fahren Sie dahin, wohin er Sie haben will«, sagte Kurtz. »Und ich möchte, dass Sie ihm zuwinken und den erhobenen Daumen zeigen, wenn Sie abfahren. Fahren Sie dann weiter Richtung Süden und bei der ersten Gelegenheit wieder auf den Highway.« Er seufzte. »Der Herr liebt die Feiglinge.« Er beugte sich vor und sah dabei den weiß werdenden Ripley-Flaum in Fred-dys rechtem Ohr. Er flüsterte wie ein leidenschaftlicher Geliebter: »Und wenn Sie Mist bauen, Bürschchen, jage ich Ihnen eine Kugel in den Nacken.« Kurtz berührte die Stelle, wo Schädelknochen und Hals aufeinander trafen. »Genau da.«
Freddys Holzindianergesicht regte sich nicht. »Jawohl, Boss.«
Anschließend packte Kurtz den schon fast im Koma liegenden Perlmutter an der Schulter und rüttelte ihn, bis Pear-Iy endlich die Augen aufschlug.
»Lassense mich in Ruhe, Boss, muss schlafen.«
Kurtz platzierte die Mündung seiner Pistole am Hinterkopf seines vormaligen Adjutanten. »Nichts da. Aufgewacht, Bursche. Zeit für eine kleine Einsatzbesprechung.«
Pearly stöhnte zwar, setzte sich aber doch auf. Als er den Mund aufmachte und etwas sagen wollte, kullerte ihm ein Zahn heraus und auf den Parka. Der Zahn sah makellos aus, fand Kurtz. Schau, Mama, gar keine Löcher.
Pearly berichtete, dass Owen und sein neuer Freund immer noch in Derry seien. Das klang sehr gut. Klang ausgezeichnet. Weniger gute Neuigkeiten gab es eine Viertelstunde später, als Freddy mit dem Humvee eben mühsam über eine verschneite Auffahrt wieder auf den Highway fuhr. Es war die Ausfahrt 28, und sie waren nur noch ein Kreuz von ihrem Ziel entfernt, aber knapp vorbei war eben auch daneben.
»Sie sind wieder unterwegs«, sagte Perlmutter. Er klangt erschöpft und ausgelaugt.
»Verdammt noch eins!« Er war jetzt voller Wut - krankhafter und nutzloser Wut auf Owen Underhill, der nun (zumindest für Abe Kurtz) den ganzen verpatzten Einsatz verkörperte.
Pearly gab ein tiefes Stöhnen von sich, einen Laut äußerster Verzweiflung. Sein Bauch blähte sich wieder auf. Er legte beide Hände darauf, und seine Wangen waren klatschnass von Schweiß. Sein ansonsten wenig bemerkenswertes Gesicht war unter den Schmerzen fast hübsch geworden.
Jetzt gab er wieder einen grausligen Furz von sich, der gar kein Ende nehmen wollte. Das Geräusch erinnerte Kurtz an Geräte, die er gut tausend Jahre zuvor im Ferienlager gebastelt hatte und die aus Blechbüchsen und mit Wachs überzogenen Schnüren bestanden hatten. Schwirrdosen hatten sie sie genannt.
Der Gestank, der den Humvee erfüllte, war der Gestank des roten Tumors, der in Pearlys persönlicher Kläranlage wuchs, sich zunächst von seinen Abfällen ernährt hatte und dann zu den eigentlichen Leckereien übergegangen war. Ganz schön schaurig. Aber es gab auch Positives. Freddy war auf dem Wege der Besserung, und Kurtz hatte sich gar nicht mit dem verdammten Ripley angesteckt (vielleicht war er ja immun dagegen; er hatte jedenfalls schon vor einer Viertelstunde die Atemmaske abgenommen und gleichgültig hinter sich geworfen). Und Pearly war zwar zweifellos krank, aber doch auch wertvoll, ein Mensch, dem ein richtig gutes Radar im Arsch steckte. Deshalb tätschelte Kurtz Pearly die Schulter und ignorierte den Gestank. Früher oder später würde das Ding, das er da in sich trug, herauskommen, und dann war es mit Pearlys Nützlichkeit wahrscheinlich vorbei, aber darüber würde sich Kurtz erst Gedanken machen, wenn es so weit war.
»Halten Sie durch«, sagte Kurtz liebevoll. »Sagen Sie dem Ding einfach, es soll sich wieder schlafen legen.«
»Sie ... verdammter... Idiot!«, keuchte Perlmutter.
»Ja, das bin ich«, pflichtete Kurtz bei. »Ganz wie Sie meinen, Bursche.« Und er war ja tatsächlich ein Idiot. Owen hatte sich zwar als feiger Kojote erwiesen, aber wer hatte ihn denn überhaupt erst in den Hühnerstall gelassen?
Sie kamen jetzt zur Ausfahrt 27. Kurtz blickte über die Straße und bildete sich ein, die Spuren des Humvees sehen zu können, den Owen fuhr. Irgendwo da vorne, links oder rechts von der Überführung, stand das Haus, zu dem Owen und sein neuer Freund gefahren waren. Was wollten sie dort?
»Sie haben Duddits abgeholt«, sagte Perlmutter. Sein Bauch sank wieder in sich zusammen, und die schlimmsten Qualen waren anscheinend vorbei. Zumindest fürs Erste. »Duddits? Was soll denn das für ein Name sein?«
»Ich weiß es nicht. Ich empfange das von seiner Mutter. Ihn kann ich nicht sehen. Er ist anders, Boss. Es ist fast so, als ob er ein Grauer und kein Mensch wäre.«
Kurtz lief es kalt den Rücken hinunter.
»Seine Mutter sieht in diesem Duddits sowohl einen Jungen als auch einen Mann«, sagte Pearly. Seit sie Gosselin's verlassen hatten, war es das erste Mal, dass Pearly Kurtz aus freien Stücken etwas mitteilte. Perlmutter klang fast interessiert.
»Vielleicht ist er geistig behindert«, sagte Freddy.
Perlmutter schaute zu Freddy hinüber. »Das könnte sein. Auf jeden Fall ist er krank.« Pearly seufzte. »Ich weiß, wie er sich fühlen muss.«
Kurtz tätschelte Perlmutter wieder die Schulter. »Kopf hoch, Bursche. Was ist mit den Kerlen, denen sie folgen? Diesem Gary Jones und dem angeblichen Mr. Gray?« Es kümmerte ihn zwar nicht groß, aber die Möglichkeit bestand durchaus, dass der Kurs und das Vorankommen dieses Jones -und dieses Gray, wenn es denn außer in Owens fieberkranker Fantasie einen Gray gab - sich auswirken würden auf den Kurs und das Vorankommen von Underhill, Devlin und ... Duddits?
Perlmutter schüttelte den Kopf, schloss dann die Augen und lehnte den Hinterkopf wieder an den Sitz. Das Fünkchen Interesse und Energie schien verflogen. »Nichts«, sagte er. »Zu denen komme ich nicht durch.«
»Vielleicht gibt es sie gar nicht?«
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