Es war nicht der richtige Zeitpunkt für solche Fragen, und darüber war Owen fast froh.
»Ich hatte zwar gesagt, dass ich ihm seine Lunchbox nicht packe, aber jetzt habe ich es natürlich doch gemacht.«
Roberta sah sie an - sah Duddits an, der sie erst mit einen und dann mit der anderen Hand hielt, während er seinen riesigen Parka anzog, der auch ein Geschenk der Boston Red Sox war. Sein Gesicht hob sich unglaublich fahl von dem leuchtenden Blau der Jacke und dem hellen Gelb der Schachtel ab. »Ich habe gewusst, dass er fortgeht. Und dass ich hier bleibe.« Sie sah Henry in die Augen. »Darf ich bitte mit, Henry?«
»Wenn du mitkommst, könnte es sein, dass du vor seinen Augen umkommst«, sagte Henry - und hasste diese Grausamkeit und hasste sich selbst auch dafür, dass ihn die Arbeit, die er sein ganzes Leben lang geleistet hatte, so gut darauf vorbereitet hatte, jetzt auf genau die richtigen Knöpfe zu drücken. »Willst du, dass er das sieht, Roberta?«
»Nein, natürlich nicht.« Und dann, und das traf ihn mitten ins Herz: »Du Mistkerl.«
Sie ging zu Duddits, schob Owen beiseite und schloss ihrem Sohn flugs den Reißverschluss. Dann nahm sie ihn an den Schultern, zog ihn zu sich herunter und sah ihm starr in die Augen. Diese zierliche, dabei so starke Frau. Und ihr großer, blasser Sohn, der in seinem Parka fast verschwand. Roberta hatte aufgehört zu weinen.
»Sei schön brav, Duddie.«
»Bin bav, Amma.«
»Pass auf Henry auf.«
»Ach ich, Amma. Ich ass auf Ennie auf.«
»Und immer schön warm anziehen.«
»Ja.« Immer noch gehorsam, aber jetzt auch ein klein wenig ungeduldig, denn er wollte los, und woran Henry das alles erinnerte: wie sie losgezogen waren, um Eis zu holen, wie sie zum Minigolf gefahren waren (Duddits war bei diesem Spiel erstaunlich gut gewesen, und nur Pete hatte ihn hin und wieder schlagen können), wie sie ins Kino gegangen waren; immer hatte es geheißen: Pass auf Henry auf oder pass auf Jonesy auf oder pass auf deine Freunde auf; immer hatte es geheißen: Sei schön brav, Duddie und Bin bav, Amma.
Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß.
»Ich liebe dich, Douglas. Du bist mir immer ein guter Sohn gewesen. Und ich liebe dich sehr. Jetzt gib mir einen
KUSS.«
Er küsste sie; sie streckte die Hand aus und streichelte seine Wange, die sich mit den Bartstoppeln wie Sandpapier anfühlte. Henry konnte es kaum ertragen zuzusehen, sah aber trotzdem hin, war dem so wehrlos ausgeliefert wie eine Fliege einem Spinnennetz, in dem sie sich verfangen hatte. Und jeder Traumfänger war auch so eine Falle.
Duddits gab ihr noch einen flüchtigen kuss, schaute dabei mit seinen strahlenden grünen Augen aber schon zu Henry und der Haustür hinüber. Duddits wollte dringend los. Weil er wusste, dass die Leute, die Henry und seinen Freund verfolgten, schon so nah waren? Weil es ein Abenteuer war, genau wie die Abenteuer, die sie zu fünft in ihrer Kindheit bestanden hatten? Oder sowohl als auch? Ja, wahrscheinlich. Roberta ließ ihn los, und ihre Hände lösten sich zum letzten Mal von ihrem Sohn.
»Roberta«, sagte Henry, »wieso hast du keinem von uns davon erzählt? Wieso hast du nicht angerufen?« »Und warum seid ihr nie vorbeigekommen?«
Henry hätte vielleicht noch eine andere Frage gestellt -Wieso hat Duddits nicht angerufen? -, aber schon die Frage wäre einer Lüge gleichgekommen. Duddits hatte seit März, als Jonesy seinen Unfall hatte, mehrfach angerufen. Er dachte an Pete, wie er da neben dem umgestürzten Scout im Schnee gesessen, Bier getrunken und immer wieder duddits in den Schnee geschrieben hatte. Duddits, der in seinem Ne-ver-Never-Land, von der Außenwelt abgeschnitten, im Sterben lag, hatte seine Botschaften ausgesandt und nur Schweigen zur Antwort bekommen. Schließlich kam einer von ihnen vorbei, aber nur, um ihn mit nichts weiter als einer Tüte voller Pillen und seiner alten gelben Lunchbox von zu Hause zu entführen. Der Traumfänger war auch kein Trost. Sie hatten es mit Duddits immer nur gut gemeint, sogar schon damals an diesem ersten Tag; sie hatten ihn aufrichtig geliebt. Und doch endete es nun so.
»Pass auf ihn auf, Henry.« Sie wandte sich an Owen. »Und Sie auch. Passen Sie gut auf meinen Sohn auf.«
Henry sagte: »Wir werden uns Mühe geben.«
15
Auf der Dearborn Street konnten sie nicht wenden; sämtliche Auffahrten waren mit Schnee zugepflügt. Im Morgenlicht sah die schlafende Wohngegend aus wie ein Städtchen irgendwo in den Weiten der Tundra Alaskas. Owen legte den Rückwärtsgang ein und brauste mit dem Humvee die Straße zurück, wobei das Heck des massigen Fahrzeugs unbeholfen hin und her wippte. Die hoch angebrachte, stählerne Stoßstange schrammte an einem unter Schnee verborgenen, am Straßenrand abgestellten Auto entlang, und man hörte Glas splittern. Danach durchbrachen sie an der Kreuzung wieder die Straßensperre aus gefrorenem Schnee, schwenkten halsbrecherisch auf die Kansas Street ein und brausten in Richtung Highway. Die ganze Zeit über saß Duddits absolut selbstzufrieden auf der Rückbank, seine Lunchbox auf dem Schoß.
Henry, wieso hat Duddits gesagt, dass Jonesy Wasser will? Was denn für Wasser?
Henry versuchte ihm telepathisch zu antworten, aber Owen konnte ihn nicht mehr hören. Die Byrus-Flecken auf seinem Gesicht waren alle weiß geworden, und als er sich gedankenverloren die Wange kratzte, löste er das Zeug schuppenweise mit den Fingernägeln. Die Haut darunter sah rissig und gerötet aus, aber nicht eigentlich verletzt. Wie man eine Erkältung überwindet, grübelte Henry. Schlimmer ist es eigentlich nicht.
»Assa«, sagte Duddits von der Rückbank aus noch einmal. Er beugte sich vor und sah das große grüne Schild mit der Aufschrift 95 Richtung Süden an. »Onzi will Assa.«
Owen runzelte die Stirn, und toter Byrus rieselte herab wie Haarschuppen. »Was -«
»Ja«, sagte Henry, langte nach hinten und tätschelte Duddits das knöchrige Knie. »Jonesy will Wasser. Aber es ist eigentlich nicht Jonesy, der das Wasser will. Es ist der andere. Den er Mr. Gray nennt.«
16
Roberta ging zurück in Duddits' Zimmer und fing an, die Kleidungsstücke vom Boden aufzusammeln - es machte sie wahnsinnig, wie er immer seine Sachen herumliegen ließ, aber sie vermutete, dass das nun auch ein Ende hatte. Sie war kaum fünf Minuten dabei, da wurden ihr die Beine schwach, und sie musste sich auf den Stuhl am Fenster setzen. Der Anblick des Betts, in dem er einen immer größeren Teil seiner Tage verbracht hatte, quälte sie. Das trübe Morgenlicht auf seinem Kissen, auf dem noch der runde Abdruck seines Kopfs zu sehen war, wirkte unsagbar grausam.
Henry war der Ansicht, sie hätte Duddits gehen lassen, weil sie glaubte, das Schicksal der Welt hinge irgendwie davon ab, dass sie Jonesy fanden, und zwar schnell. Aber das war es nicht. Sie hatte Duddits gehen lassen, weil er es so wollte. Die Sterbenden bekamen signierte Baseballkappen geschenkt; und die Sterbenden durften mit alten Freunden Ausflüge unternehmen.
Aber es war hart.
Es war so hart, ihn zu verlieren.
Sie hielt sich eine Hand voll T-Shirts vors Gesicht, um nicht mehr das Bett ansehen zu müssen, und da war sein Geruch: Johnson's-Shampoo, Dial-Seife und vor allem, am schlimmsten von allem, die Arnikacreme, mit der sie ihm Rücken und Beine einrieb, wenn ihm die Muskeln wehtaten.
In ihrer Verzweiflung suchte sie da draußen nach ihm, versuchte ihn bei den beiden Männern zu erreichen, die wie die Toten gekommen waren und ihn geholt hatten, aber sie erreichte ihn nicht.
Er sperrt mich aus seinen Gedanken aus, dachte sie. Sie hatten all die Jahre (größtenteils) viel Freude gehabt an ihrer ganz alltäglichen Telepathie, die wahrscheinlich nicht groß davon abwich, was die Mütter anderer außergewöhnlicher Kinder erlebten (ein »besonders enges Verhältnis«, hatten sie es bei den Treffen der Selbsthilfegruppe immer genannt, die Alfie und sie hin und wieder besucht hatten), aber das war nun vorbei. Duddits hatte sich eingesperrt, und das hieß, er wusste, dass etwas Schreckliches bevorstand.
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