bremsten dann ab.
Mit einem Mal meinte Jonesy, ihm ginge ein Licht auf.
Er betrachtete die Kisten, die er hereingeschafft hatte. Die meisten waren mit duddits beschriftet, einige auch mit derry. Diese mitzunehmen war eine nachträgliche Idee gewesen. Mr. Gray dachte, er hätte alle Erinnerungen, die er brauchte, alle Informationen, die er brauchte, aber wenn Jonesy Recht damit hatte, wohin sie fuhren (und es sah wirklich ganz danach aus), dann stand Mr. Gray eine Überraschung bevor. Jonesy wusste nicht, ob ihn das freuen oder ängstigen sollte, und musste feststellen, dass beides eintrat.
Jetzt kam ein grünes Schild mit der Aufschrift ausfahrt 2^5 > wiTCHHAM street. Seine Hand betätigte den Blinkerhebel des Dodge.
An der nächsten Kreuzung bog er links auf die Witcham Street und dann eine halbe Meile später wieder links in die Carter Street. Die Carter Street ging steil bergauf und führte zurück in Richtung Upmile Hill und Kansas Street, auf einen Hügelkamm, der früher bewaldet gewesen war und wo es auch eine Ansiedlung der Micmac-Indianer gegeben hatte. Die Straße war seit Stunden nicht geräumt worden, aber der Allradantrieb war dem gewachsen. Der Dodge schlängelte sich zwischen den Schneehügeln am linken und rechten Straßenrand hindurch - Autos, die verbotenerweise auch bei diesem Wetter an der Straße geparkt waren.
Auf halber Strecke den Hang hoch bog Mr. Gray wieder ab, diesmal auf eine noch schmalere Straße, die Carter Lookout hieß. Der Dodge kam ins Schlittern und brach hinten aus. Der Hund schaute kurz winselnd hoch und legte den Kopf dann wieder auf die Fußmatte, als die Reifen Halt fanden, im Schnee griffen und den Wagen das restliche Stück bergauf beförderten.
Jonesy sah fasziniert von seinem Fenster auf die Welt aus zu und wartete darauf, dass Mr. Gray ... na, dass er es mitbekam.
Zunächst war Mr. Gray nicht bestürzt, als das Fernlicht des Dodge auf dem Gipfel des Hügels weiter nichts zeigte als wirbelnde Schneeflocken. Er baute darauf, dass er ihn in ein paar Sekunden erblicken würde, natürlich würde er das ... nur noch ein paar Sekunden, dann würde er den großen weißen Turm erblicken, der hier stand und den Hang hinab zur Kansas Street überragte, den Turm, an dem sich spiralförmig eine Kette von Fenstern emporzog. Nur noch ein paar Sekunden ...
Nur dass es hier nicht mehr weiterging. Der Dodge hatte sich bis ganz auf den Hügel hochgekämpft, der früher Standpipe Hill hieß. Hier endete die Carter Lookout - und drei, vier ähnliche schmale Straßen - auf einem großen, runden Platz. Sie waren an der höchsten und ungeschütztesten Stelle von Derry angelangt. Der Wind heulte gespenstisch, jagte mit einer Geschwindigkeit um die achtzig Stundenkilometer daher, in Böen auch hundertzehn, ja hundertdreißig. Im Fernlicht des Dodge flogen die Schneeflocken hier waagerecht wie ein Gewitter von Dolchen.
Mr. Gray saß reglos am Steuer. Jonesys Hände sanken vom Lenkrad, wie abgeschossene Vögel vom Himmel stürzen. Schließlich fragte er: »Wo ist er?«
Seine linke Hand hob sich, nestelte am Türgriff herum und bekam ihn schließlich auf. Er schwang ein Bein heraus und fiel auf Jonesys Knien in eine Schneewehe, als ihm der heulende Wind die Tür aus der Hand schlug. Er rappelte sich auf und kämpfte sich zur Vorderseite des Wagens, und seine Jacke und seine Hosenbeine flatterten wie Segel im Sturm. In diesem Wind lag die empfundene Temperatur jetzt sicherlich bei minus zwanzig Grad (im Büro der Gebrüder Tracker wurde es binnen Sekunden richtig kühl), aber das war der rotschwarzen Wolke, die jetzt einen Großteil von Jonesys Geist innehatte und Jonesys Körper steuerte, vollkommen egal.
»Wo ist er?«, schrie Mr. Gray dem heulenden Sturm entgegen. »Wo ist der WASSERTURM?«
Jonesy hingegen musste nicht schreien. Ob es nun stürmte oder nicht: Mr. Gray verstand ihn auch flüsternd.
»Ätsch-bätsch, Mr. Gray«, sagte er. »Har har har! Reingelegt! Der Wasserturm steht schon seit 1985 nicht mehr.«
6
Jonesy dachte, dass er an Mr. Grays Stelle jetzt einen richtig kleinkindhaften Wutanfall mit allen Schikanen hingelegt hätte, sich vielleicht sogar im Schnee herumgerollt und um sich getreten hätte; und obwohl er sich dagegen sträubte, schöpfte Mr. Gray ja auch voll aus Jonesys Gefühlsrepertoire und konnte, da er einmal damit angefangen hatte, ebenso wenig wieder damit aufhören wie ein Alkoholiker, der einen Nachschlüssel zu einer Kneipe sein Eigen nannte.
Doch statt aus der Haut zu fahren und in die Luft zu gehen, stieß er Jonesys Körper quer über die kahle Hügel kuppe auf den klobigen Steinsockel zu, der dort stand, wo er den Speicher für das Trinkwasser der Stadt erwartet hatte - für zweieinhalb Millionen Liter Trinkwasser. Er fiel in den Schnee, quälte sich wieder hoch, humpelte, Jonesys invalide Hüfte belastend, weiter, fiel wieder hin und stand wieder auf, und die ganze Zeit über spie er Bibers Litanei kindischer Verwünschungen dem Sturm entgegen: Gekörnte Scheiße! Knutsch mir die Kimme! Leckomio! Karierte Kacke! Wenn das von Biber (oder Henry oder Pete) kam, war es immer lustig gewesen. Aber hier, auf diesem einsamen Hügel, von diesem immer wieder strauchelnden und hinfallenden Monster in Menschengestalt dem Sturmwind entgegengebrüllt, war es schrecklich.
Er oder es oder was Mr. Gray auch war, erreichte schließlich den Sockel, der im Scheinwerferlicht des Dodge gut zu sehen war. Er ragte in Kindergröße auf, gut ein Meter fünfzig, und war aus dem schlichten Felsgestein erbaut, aus dem in Neuenglang viele Mauern bestanden. Oben drauf standen zwei Bronzefiguren, ein Junge und ein Mädchen, die Händchen hielten und den Kopf zum Gebet oder in Trauer gesenkt hatten.
Der Sockel war fast unter einer Schneewehe verschwunden, aber das obere Ende der Gedenktafel war noch zu sehen. Mr. Gray fiel auf Jonesys Knie, wischte mit Jonesys Händen den Schnee beiseite und las das Folgende:
DEN OPFERN DES ORKANS VOM 31. MAI 1985 UND DEN KINDERN
ALLEN KINDERN IN LIEBE VON BILL, BEN, BEV, EDDIE, RICHIE,
STAN, MIKE DER KLUB DER VERSAGER
Und in krakeligen roten Sprühbuchstaben stand darüber, im Scheinwerferlicht des Dodge ebenfalls gut lesbar, diese Botschaft:
P&/NYWISE LEBT
Mr. Gray kniete dort fast fünf Minuten lang, starrte die Tafel an und ignorierte dabei völlig die lähmende Kälte, die Jo-nesy in die Knochen kroch. (Und warum hätte er sich auch darum scheren sollen? Jonesy war ja einfach nur ein billiger Mietwagen, mit dem man durch jedes Schlagloch fuhr und auf dessen Fußmatten man seine Kippen austrat.) Er versuchte das zu verstehen. Orkan? Kinder? Versager? Wer oder was war Pennywise? Und vor allem: Wo war der Wasserturm geblieben, der Jonesys Erinnerungen nach hier stand?
Schließlich erhob er sich, humpelte zurück zum Wagen, stieg ein und drehte die Heizung auf. In dem warmen Luftstrom fing Jonesys ganzer Körper an zu schlottern. Im Handumdrehen stand Mr. Gray wieder an der verschlossenen Bürotür und verlangte eine Erklärung.
»Wieso bist du denn so wütend?«, fragte Jonesy sanft und lächelte dabei. Konnte Mr. Gray das Lächeln wahrnehmen? »Hattest du etwa erwartet, dass ich dir helfe? Also bitte, mein Lieber - ich kenne zwar die Einzelheiten nicht, kann mir aber gut vorstellen, worauf das hier hinauslaufen soll: In zwanzig Jahren ist der ganze Planet eine einzige rot überzogene Kugel, nicht wahr? Zwar ohne Loch in der Ozonschicht, dafür aber auch ohne Menschen.«
»Komm mir nicht wie ein Klugscheißer! Wage es nicht!«
Jonesy widerstand der Versuchung, einen weiteren Wutanfall aus Mr. Gray herauszukitzeln. Er glaubte zwar nicht, dass ihm sein unwillkommener Gast, wie wütend er auch sein mochte, die Tür einpusten konnte, aber warum sollte man es darauf ankommen lassen? Und außerdem war Jonesy emotional ausgelaugt und mit den Nerven am Ende und hatte einen widerlichen Geschmack wie von Kupfer im Mund.
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