Jetzt sah er, dass es ein Rollschreibtisch aus Eiche war, genau wie der daheim in seinem Arbeitszimmer in Brookline. Und das Telefon war ein blaues Trimline, genau wie das in seinem Büro am Emerson College. Er wischte sich eine Hand voll pisswarmen Schweiß von der Stirn, und da sah er, was vorhin seinen Kopf gestreift hatte.
Es war der Traumfänger.
Der Traumfänger aus ihrer Hütte.
»Ach du Scheiße«, flüsterte er. »Ich richte mich hier ja ein.«
Natürlich tat er das, und warum auch nicht? Richteten nicht sogar Häftlinge im Todestrakt ihre Zellen ein? Und wenn er im Schlaf einen Schreibtisch und einen Traumfänger und ein Trimline-Telefon herbeischaffen konnte, dann konnte er ja vielleicht auch -
Jonesy schloss die Augen und konzentrierte sich. Er versuchte, vor seinem geistigen Auge ein Bild seines Arbeitszimmers in Brookline erstehen zu lassen. Für einen Moment fiel ihm das schwer, denn eine Frage störte ihn dabei: Wenn seine Erinnerungen da draußen waren, wie konnte er sie dann hier drin heraufbeschwören? Die Lösung, das ging ihm auf, war wahrscheinlich ganz einfach. Seine Erinnerungen waren immer noch in seinem Kopf, wo sie immer gewesen waren. Die Kartons im Lager waren etwas, das Henry eine Externa-lisierung genannt hätte, seine Art, sich all das vorzustellen, worauf Mr. Gray zugreifen konnte.
Egal. Konzentriere dich auf das, was jetzt zu tun ist. Dein Arbeitszimmer in Brookline. Zeig dir dein Arbeitszimmer in Brookline.
»Was machst du da?«, wollte Mr. Gray wissen. Die anbiedernde Selbstsicherheit war aus seiner Stimme verschwunden. »Gekörnte Scheiße noch mal, was machst du
da?«
Jonesy musste ein wenig darüber lächeln, konnte es sich nicht verkneifen, hielt aber weiter an dem Bild fest. Nicht nur das des Arbeitszimmers, sondern das einer Wand dieses Arbeitszimmers ... da neben der Tür, die in das kleine Badezimmer führte ... ja, da war er. Der Thermostat. Und was sollte er jetzt sagen? Gab es da ein Zauberwort? So was wie Simsalabim?
Klar.
Mit immer noch geschlossenen Augen und dem Anflug eines Lächelns auf seinem schweißüberströmten Gesicht flüsterte Jonesy: »Duddits.«
Er schlug die Augen auf und sah die staubige, unscheinbare Wand an.
Da war der Thermostat.
»Hör auf!«, schrie Mr. Gray, und als Jonesy durchs Zimmer ging, war er verblüfft darüber, wie vertraut ihm diese Stimme war; es war, als würde er einen seiner eigenen gelegentlichen (normalerweise von unaufgeräumten Kinderzimmern ausgelösten) Wutanfälle auf Kassette hören. »Hör auf damit! Das geht so nicht weiter!«
»Knutsch mir die Kimme«, entgegnete Jonesy grinsend. Wie oft hatten sich seine Kinder gewünscht, so etwas zu ihm sagen zu können, wenn er anfing rumzuquaken? Dann kam ihm ein scheußlicher Gedanke. Er würde seine Wohnung in Brookline wahrscheinlich nie Wiedersehen, und wenn doch, dann nur mit Augen, die jetzt Mr. Gray gehörten. Die Wange, die seine Kinder geküsst hatten (»Au, kratzig, Daddy!«, sagte Misha immer), war nun Mr. Grays Wange. Und ebenso waren die Lippen, die Carla geküsst hatte, nun Mr. Grays Lippen. Und im Bett, wenn sie nach ihm fasste und ihn hineinführte in ihre -
Jonesy erschauderte und griff dann zum Thermostat ... der, wie er sah, auf fünfzig Grad gestellt war. Es war bestimmt der Einzige auf der ganzen Welt, an dem man solche Temperaturen einstellen konnte. Er drehte den Knopf eine halbe Umdrehung nach links, wusste nicht, was er nun zu erwarten hatte, und war hocherfreut, als er augenblicklich einen kühlen Luftzug auf Stirn und Wangen spürte. Er drehte sich dankbar um, um mehr von der Brise abzubekommen, und sah, dass oben in einer Wand ein Lüftungsgitter eingelassen war. Noch etwas Neues.
»Wie machst du das?«, brüllte Mr. Gray durch die Tür. »Wieso nimmt dein Körper den Byrus nicht auf? Wie kannst du überhaupt da drin sein?«
Jonesy brach in Gelächter aus. Er konnte es sich einfach nicht verkneifen.
»Freut mich, dass du das so lustig findest«, sagte Mr. Gray, und jetzt war sein Tonfall eisig. Es war der Ton, in dem Jonesy Carla sein Ultimatum gestellt hatte: Entzug oder Scheidung, Schatz, du hast die Wahl. »Ich kann mehr als nur die Heizung aufdrehen, weißt du. Ich kann dich ausräuchern. Oder dich dazu bringen, dass du dich selber blendest. «
Jonesy erinnerte sich daran, wie der Kugelschreiber in Andy Janas' Auge gedrungen war - dieses schreckliche platzende Geräusch -, und ein Schauer überlief ihn. Aber er wusste, dass das nur ein Bluff war. Du bist der Letzte deiner Art, und ich bin dein Fortbewegungsmittel, dachte Jonesy. Du wirst mich nicht allzu sehr quälen, jedenfalls nicht, solange deine Aufgabe noch nicht ausgeführt ist.
Er ging langsam zurück zur Tür und ermahnte sich zur Vorsicht ... denn wie hieß es doch so schön: Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste!
»Mr. Gray?«, fragte er leise.
Keine Antwort.
»Mr. Gray, wie siehst du jetzt aus? Wie siehst du aus, wenn du du bist? Ein bisschen weniger grau und eher ein bisschen rosa? Ein paar mehr Finger an den Händen? Auch ein paar Haare auf dem Kopf? Kriegst du Zehen und Hoden?«
Keine Antwort.
»Siehst du allmählich aus wie ich, Mr. Gray? Denkst du allmählich wie ich? Das gefällt dir nicht, nicht wahr? Oder etwa doch?«
Immer noch keine Antwort, und da wurde Jonesy klar, dass Mr. Gray fort war. Er drehte sich um und eilte zum Fenster, und dabei fielen ihm weitere Veränderungen auf: ein Holzschnitt von Currier &c Ives an der einen Wand, ein Van-Gogh-Druck an der anderen - Ringelblumen, ein Weihnachtsgeschenk von Henry -, und auf seinem Schreibtisch stand der magische Achterball, den er auch zu Hause auf seinem Schreibtisch hatte. Jonesy achtete kaum auf diese Dinge. Er wollte sehen, was Mr. Gray jetzt im Schilde führte, was jetzt seine Aufmerksamkeit fesselte.
Das Wageninnere hatte sich verändert. Statt vom eintönigen Olive in Andy Janas' Militär-Pickup (mit einem Klemmbrett mit Papieren und Formularen auf dem Beifahrersitz und einem quakenden Funkgerät unter dem Armaturenbrett) war er nun umgeben von einem luxuriös ausgestatteten Dodge Ram Club Gab mit grauen Velours-Sitzbezügen und einem Armaturenbrett wie im Cockpit eines Learjets. Auf dem Handschuhfach war ein Aufkleber mit der Aufschrift ich V meinen border collie. Der dazugehörige Border Collie war ebenfalls anwesend und schlief eingerollt auf der Fußmatte vor dem Beifahrersitz. Es war ein Rüde namens Lad. Jonesy ahnte, dass er auch erfahren konnte, wie Lads Herrchen hieß und was aus ihm geworden war, aber wozu sollte er das wissen wollen? Irgendwo nördlich von hier stand Andy Janas' Armee-Pickup jetzt abseits der Straße, und der Fahrer dieses Wagens hier lag wahrscheinlich irgendwo in der Nähe. Jonesy hatte keine Ahnung, wieso der Hund verschont worden war.
Dann hob Lad den Schwanz und furzte, und da war Jone sy alles klar.
Er stellte fest, dass er, wenn er aus dem Bürofenster der Gebrüder Tracker schaute und sich konzentrierte, mit seinen eigenen Augen sehen konnte. Es schneite jetzt heftiger denn je, aber genau wie das Armeefahrzeug hatte der Dodge Ram einen Allradantrieb und zockelte sicher dahin. Auf der Gegenfahrbahn, die nach Norden, nach Jefferson Tract führte, kam ihnen eine Kolonne hoch angebrachter Scheinwerfer entgegen: ein Konvoi von Armeelastern. Dann ragte vor ihnen ein Schild mit weißen Leuchtbuchstaben auf grünem Grund aus dem Schneegestöber: derry nächste 5 Ausfahrten.
Die städtischen Schneepflüge waren unterwegs gewesen, und obwohl kaum Verkehr war (auch bei gutem Wetter wäre um diese Uhrzeit nicht mehr viel los gewesen), war der Highway gut passierbar. Mr. Gray beschleunigte mit dem Dodge auf sechzig Stundenkilometer. Sie kamen an drei Ausfahrten vorbei, die Jonesy gut aus seiner Kindheit kannte
(KANSAS STREET, FLUGHAFEN, UPMILE HILL/STRAWFORD PARK) Und
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