Auf jeden Fall war sie eine exzentrische alte Frau, das konnte niemand bezweifeln. Seit dreißig Jahren führte sie ein seltsames Einsiedlerleben in einem Häuschen an den Hängen der Blue Ridge Mountains, einige Meilen vom nächsten Dorf entfernt. Sie hatte fünf Morgen Weideland, einen Gemüsegarten, einen Blumengarten, drei Kühe, ein Dutzend Hühner und einen prächtigen Hahn. Und jetzt hatte sie noch den kleinen Lexington.
Als strenge Vegetarierin hielt sie den Genuss von Tierfleisch nicht nur für ungesund und widerwärtig, sondern auch für eine entsetzliche Grausamkeit. Sie aß nur schöne, saubere Nahrungsmittel wie Milch, Butter, Eier, Käse, Gemüse, Nüsse, Kräuter und Obst, und sie war glücklich in dem Bewusstsein, dass ihretwegen keine lebende Kreatur getötet wurde, nicht einmal eine Garnele. Als eine der braunen Hennen in der Blüte ihrer Jahre an Legenot verstarb, war Tante Glosspan so traurig, dass sie um ein Haar das Eieressen aufgegeben hätte.
Von Säuglingen verstand sie nicht das Geringste, aber das machte ihr keine Sorgen. Während sie in New York auf den Zug wartete, der sie und Lexington nach Virginia bringen sollte, kaufte sie sechs Saugflaschen, zwei Dutzend Windeln, eine Schachtel Sicherheitsnadeln, Milch für die Reise und ein broschiertes Büchlein mit dem Titel Kinderpflege. Was brauchte sie mehr? Als sich der Zug in Bewegung setzte, gab sie dem Baby etwas Milch, legte es nach bestem Wissen trocken und bettete es zum Schlafen auf den Sitz. Dann las sie die Kinderpflege von A bis Z durch.
«Das ist kein Problem», sagte sie und warf das Buch aus dem Fenster. «Überhaupt kein Problem.»
Und merkwürdigerweise war es das wirklich nicht. Daheim in dem Landhaus ging alles so glatt wie nur möglich. Der kleine Lexington trank seine Milch, stieß auf, schrie und schlief, kurzum, er tat alles, was man von einem artigen Baby erwartet. Tante Glosspan strahlte vor Freude, sooft sie ihn ansah, und küsste ihn immer wieder ab.
IV
Mit sechs Jahren war Lexington zu einem wunderschönen Jungen mit langem, goldblondem Haar und kornblumenblauen Augen herangewachsen. Er war gescheit und fröhlich und lernte bald, seiner alten Tante auf allerlei Weise in der Wirtschaft zu helfen. So sammelte er zum Beispiel im Hühnerstall die Eier ein, drehte die Kurbel des Butterfasses, grub im Gemüsegarten Kartoffeln aus und suchte am Berghang wilde Kräuter. Tante Glosspan sagte sich, dass sie allmählich an seinen Unterricht denken müsse.
Der Gedanke, ihn in ein Internat zu schicken, war ihr jedoch unerträglich. Sie liebte Lexington jetzt so sehr, dass selbst die kürzeste Trennung ihr Tod gewesen wäre. Natürlich gab es unten im Tal eine Dorfschule, aber die sah schrecklich aus, und sie wusste, dass man ihn dort von Anfang an zwingen würde, Fleisch zu essen.
«Weißt du was, mein Liebling?», sagte sie eines Tages zu ihm, als er in der Küche auf einem Schemel saß und zusah, wie sie Käse bereitete. «Eigentlich könnte ich dich doch sehr gut selbst unterrichten.»
Der Junge blickte mit seinen großen blauen Augen zu ihr auf und lächelte sie vertrauensvoll an. «Das wäre fein», antwortete er.
«Und als Allererstes werde ich dich kochen lehren.»
«Ich glaube, das würde mir Spaß machen, Tante Glosspan.»
«Spaß oder nicht, lernen musst du’s auf jeden Fall», erwiderte sie. «Wir Vegetarier haben nicht so viele Lebensmittel zur Verfügung wie andere Leute, und deswegen müssen wir mit dem, was wir haben, doppelt geschickt umgehen.»
«Tante Glosspan», fragte der Junge, «was essen denn andere Leute und wir nicht?»
«Tiere», sagte sie und schüttelte sich vor Ekel.
«Meinst du lebende Tiere?»
«Nein, tote.»
Der Junge dachte einen Augenblick nach. «Du meinst, die Leute essen die Tiere, wenn sie sterben, statt sie zu begraben?»
«Sie warten nicht, bis sie sterben, mein Schätzchen. Sie töten sie.»
«Wie machen sie das, Tante Glosspan?»
«Meistens schneiden sie ihnen mit einem Messer die Kehle durch.»
«Und was für Tiere töten sie?»
«Hauptsächlich Kühe und Schweine. Auch Schafe.»
«Kühe!», rief der Junge. «Meinst du solche wie Daisy und Schneeglöckchen und Lily?»
«Ganz recht, mein Liebling.»
«Aber wie essen sie sie denn, Tante Glosspan?»
«Sie zerschneiden sie und kochen die Stücke. Am liebsten haben sie es, wenn das Fleisch ganz rot und blutig ist und an den Knochen klebt. Klumpen von Kuhfleisch, aus denen noch das Blut sickert, essen sie besonders gern.»
«Schweine auch?»
«Sie schwärmen für Schweine.»
«Für Klumpen von blutigem Schweinefleisch», murmelte der Junge. «Stell dir das vor. Was essen sie sonst noch, Tante Glosspan?»
«Hühner.»
«Hühner?»
«Millionen davon.»
«Mit Federn und allem?»
«Nein, Liebling. Die Federn nicht. Aber nun lauf hinaus, mein Herzchen, und hole Tante Glosspan ein bisschen Schnittlauch, ja?»
Bald darauf begann der Unterricht. Er umfasste fünf Fächer – Lesen, Schreiben, Geographie, Rechnen und Kochen –, von denen das letzte bei Lehrerin und Schüler das weitaus beliebteste war. Wie sich nach kurzer Zeit herausstellte, wies Lexington in dieser Hinsicht eine wirklich große Begabung auf. Er war flink und geschickt, der geborene Koch. Seine Pfannen handhabte er wie ein Jongleur, und er konnte eine Kartoffel in zwanzig papierdünne Scheiben schneiden, bevor seine Tante eine andere geschält hatte. Sein Gaumen war außerordentlich fein entwickelt, und wenn in einer kräftigen Zwiebelsuppe ein einziges Blättchen Salbei war, dann schmeckte er das sogleich heraus. Bei einem so kleinen Jungen waren diese Fähigkeiten etwas verwirrend, und Tante Glosspan wusste offen gestanden nicht recht, was sie daraus machen sollte. Trotzdem war sie über die Maßen stolz auf das Kind und prophezeite ihm eine glänzende Zukunft.
«Was für ein Segen», sagte sie, «dass ich einen so entzückenden kleinen Gefährten habe, der mir in meinem hohen Alter zur Seite steht.»
Nach ein paar Jahren zog sie sich endgültig aus der Küche zurück und überließ Lexington die Sorge für sämtliche Mahlzeiten. Der Junge war nun zehn Jahre alt und Tante Glosspan fast achtzig.
V
Als Alleinherrscher in der Küche begann Lexington sofort zu experimentieren. Die alten Lieblingsgerichte interessierten ihn nicht mehr. Ein heftiger Drang zum Schöpferischen beseelte ihn; er hatte Hunderte von neuen Ideen im Kopf. «Ich will damit anfangen, ein Kastaniensoufflé zu erfinden», sagte er, ging an die Arbeit und brachte das Soufflé an demselben Abend auf den Tisch. Es war fabelhaft. «Du bist ein Genie!», rief Tante Glosspan, erhob sich von ihrem Stuhl und küsste ihn auf beide Wangen. «Du wirst Geschichte machen!»
Von nun an verstrich kaum ein Tag, ohne dass er eine leckere neue Schöpfung serviert hätte. Er bereitete Paranuss-Suppe, Maiskotelett, Gemüseragout, Löwenzahnomelette, Käsecremepfannkuchen, gefüllten Kohl, Schalotten à la bonne femme, Mousse piquante von roten Rüben, Stroganoff-Pflaumen, überbackenen Käsetoast, panierte Rübenschnitzel, brennende Tannennadeltorte und viele andere herrliche Gerichte eigener Erfindung. Tante Glosspan erklärte, sie habe nie im Leben so gut gegessen. Jeden Morgen saß sie schon lange vor der Mittagszeit in ihrem Schaukelstuhl auf der Veranda, leckte sich die Lippen, schnüffelte nach den Gerüchen, die aus dem Küchenfenster drangen, und sah mit Spannung der kommenden Mahlzeit entgegen.
«Was machst du denn heute, mein Junge?», fragte sie dann wohl.
«Rate mal, Tante Glosspan.»
«Riecht wie Schwarzwurzelpfannkuchen, finde ich», antwortete sie und schnüffelte angestrengt.
Und dann kam das zehnjährige Kind mit einem kleinen Triumphlächeln heraus, in den Händen einen großen Topf, in dem ein himmlisches Ragout aus Pastinak und Liebstöckel dampfte.
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